Schattenfeuer
Tobsuchtsanfall alles zerstört.« Rachael konnte den Blick nicht von den Messern abwenden, und sie spürte, wie sich in ihrer Magengrube etwas zusammenkrampfte. Furcht schnürte ihr die Luft ab. Die Waffe in ihrer Hand fühlte sich anders an als noch vor wenigen Sekunden. Zu leicht, zu klein. Fast wie ein Spielzeug. Konnte sie damit überhaupt etwas ausrichten? Gegen einen solchen Feind? Weitaus vorsichtiger setzten sie den Weg durch das stille Haus fort. Der psychopathische Zorn, der sich in der Küche entladen hatte, beeindruckte auch Benny. Er forderte Rachael nicht mehr mit seinem Mut heraus, hielt sich dicht an ihrer Seite, wesentlich wachsamer als zuvor. Im großen Schlafzimmer herrschte ebenfalls Unordnung, wenn es auch nicht annähernd so ein Chaos war wie in der Küche. Neben dem breiten Doppelbett, das aus schwarzlakkiertem Holz und einem glänzenden Stahlrahmen bestand, rutschten Federn aus einem zerrissenen Kissen. Die Laken lagen zerknittert auf dem Boden, und der rasende Unbekannte hatte eine der schwarzen Keramiklampen vom Nachtschränkchen gestoßen. Sie war auseinandergebrochen, der Schirm zerdrückt. Die Bilder an den Wänden hingen schief. Benny ging in die Hocke, um sich eins der Laken genauer anzusehen. Kleine rote Flecken und ein dicker scharlachfarbener Streifen zeichneten sich mit einer krassen Deutlichkeit auf dem knittrigen Weiß ab. »Blut«, sagte er. Rachael spürte, wie ihr der kalte Schweiß ausbrach.
»Nicht viel«, fügte Ben hinzu, richtete sich wieder auf und ließ seinen Blick über die Decken schweifen. »Aber zweifellos Blut.«
Rachael sah den roten Abdruck einer Hand, dicht neben der Tür des Schlafzimmers. Er war recht groß, stammte vermutlich von einem Mann - so als habe sich ein Metzger, erschöpft von seinem gräßlichen Werk, einige Sekunden lang an die Wand gelehnt.
Im Bad brannte Licht. Durch die offene Tür konnte Rachael praktisch alles sehen, entweder direkt oder in den großen Spiegeln: graue Fliesen, Messingarmaturen, die große Wanne, im Boden eingelassen, die Toilette, den Rand des Waschbeckens. Der Raum schien verlassen zu sein, aber als Rachael sich der Schwelle näherte, hörte sie, wie jemand erschrocken nach Luft schnappte. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich so jäh, daß ihr das Pochen in der Brust wie ein lautes Trommeln erschien.
Ben blieb dicht hinter ihr stehen: »Stimmt etwas nicht?«
Rachael deutete stumm auf die Duschkabine. Das Glas war so dick und trüb, daß sich unmöglich feststellen ließ, was sich in der kleinen Kammer befand. Nicht einmal ein vager Umriß ließ sich erkennen.
Ben beugte sich vor und lauschte. Rachael wich an die Wand zurück, den Lauf ihrer 32« auf die Tür der Duschkabine gerichtet. »Kommen Sie da raus«, sagte Benny scharf und ließ das milchige Glas nicht aus den Augen.
Keine Antwort. Nur das leise, ängstliche Schnaufen.
»Sie sollen rauskommen«, wiederholte Ben.
Plötzlich vernahmen sie ein leises und entsetztes Wimmern, fast so wie das leise Weinen eines Kindes. Rachael setzte sich langsam in Bewegung und näherte sich der Duschkabine.
Ben schob sich an ihr vorbei, streckte die Hand nach dem Messinggriff aus und öffnete die Tür mit einem Ruck.»O mein Gott!«
Rachael sah ein nacktes Mädchen, das in der kleinen Kammer auf dem Boden hockte, den Rücken in die eine Ecke gepreßt. Ein kaum fünfzehn oder sechzehn Jahre altes Kind, im wahrsten Sinne des Wortes die letzte Eroberung Erics. Es bebte am ganzen Leib, hatte die Augen weit aufgerissen. Und die Wangen waren bleich, fast so weiß wie Kalk.
Die junge Frau - wenn man sie schon als solche bezeichnen konnte -mochte normalerweise recht hübsch sein, doch jetzt war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst. Unter dem rechten Auge zeigte sich ein großer, blauschwarzer Fleck, der immer noch weiter anschwoll. Gelbrote Striemen reichten über die ganze Wange, bis hin zum Unterkiefer. Die Oberlippe war aufgeplatzt, und Blut quoll aus der Wunde, tropfte auf die Kacheln. Auch die Verfärbungen auf den Armen und am linken Oberschenkel deuteten auf eine brutale Behandlung hin.
Ben wandte sich verlegen ab.
Rachael ließ die Pistole sinken und trat auf die Kabine zu. »Wer hat dir das angetan?« fragte sie. »Wer?« Sie kannte die Antwort bereits, fürchtete, sie aus dem Mund des Mädchens zu hören.
Doch es antwortete nicht. Die blutigen Lippen zitterten, als es vergeblich versuchte, verständliche Worte zu formulieren. Es wimmerte erneut, stöhnte. Tränen lösten
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