Schattengefährte
an.
»Ich bitte dich sehr darum, Alina. Alles, was ich um deinetwillen gewagt habe, wäre sinnlos, wenn du mir nicht vertrauen kannst.«
Es war schwer, seinen samtig schwarzen Augen zu widerstehen, doch ihr Verstand sagte ihr, dass sie auf der Hut sein musste. Mit schwerem Schritt trat er zu ihr, legte den Arm um sie und zog sie an sich, um sie zum Abschied einen kleinen Augenblick fest an seiner Brust zu halten. Seine Wärme und sein vertrauter Geruch umhüllten sie wie ein schützender Mantel, und sein Herzschlag vereinte sich mit dem ihren, als wolle er sie an die süße Zweisamkeit der vergangenen Nacht erinnern. Ach, es gab keinen anderen Ort in der Welt, an dem sie zu Hause sein konnte als in den Armen dieses Mannes, der zugleich auch ein Krieger und ein Rabe war. Verstand oder nicht – sie liebte ihn, und ihre Liebe wog schwerer als alle Zweifel.
Sein Kuss war fordernd und doch von großer Zärtlichkeit, sie spürte ihn noch auf ihren Lippen, als sie in der Fensternische lag, um den Raben davonfliegen zu sehen. Doch sie wartete umsonst, erfror sich fast die Finger, als sie versuchte, die Reste der zersprungenen Eiszapfen abzubrechen, um ein größeres Blickfeld zu haben. Die vereiste Ebene lag reglos unter dem schweren Wolkendunst, kein Wind war zu spüren, kein Rabe kreiste über den toten Bäumen und Felsblöcken. Nur aus dem Abgrund stieg beißende Kälte zu ihr auf, so dass sie schließlich am ganzen Körper zitterte und zurück in ihr Gemach kroch. Wieso hatte sie ihn nicht gesehen? War er vielleicht noch gar nicht fort? Verhandelte er am Ende schon mit den Zwergen, um sie als Helfer für seinen verrückten Plan zu gewinnen? Sie nahm den Mantel um und ging hinüber in die große Halle, neugierig, ob ihre Vermutung das Richtige traf. Doch sie war kaum bis zur Mitte des Raumes gelangt, als sie den metallischen Klang vernahm, den Morins Hammer auf dem Riegel der Pforte verursachte. Sie war zu spät gekommen, Fandur musste die Burg gerade in diesem Augenblick verlassen haben.
Noch stand sie zwischen den Eissäulen, vom bläulichen Schein ihrer eingeschlossenen Lichtkugeln angeleuchtet, da näherte sich lautlos der Zwerg. Morin schien noch kleiner als gewöhnlich, denn er ging vorn übergebeugt, den Hammer über der Schulter, doch die große, sehnige Hand, die den Stiel des Hammers hielt, zeugte von der ungewöhnlichen Kraft, über die ein Zwerg verfügte.
Auf Alinas Gruß antwortete er nur mit einem Nicken, das heute geradezu beleidigend unfreundlich ausfiel, denn er zuckte dabei mehrmals mit der Nase. Alina blickte ihm mit einem beklommenen Gefühl nach, während er hinter einer der eiskristallbesetzten Pforten verschwand. Nein, Morin war kein angenehmer Gastgeber, und es war auch sehr fraglich, ob er sich auf Fandurs Vorhaben einlassen würde. Weshalb sollte er sich solche Arbeit machen, um einen Garten anzulegen? Zwerge hielten nicht viel von Pflanzen und Blüten, sie rafften stattdessen die Schätze der Berge an sich und stapelten sie in ihren unterirdischen Kammern.
Alina fror immer noch erbärmlich und hatte wenig Lust, ein zweites Mal in die eisige Fensternische zu kriechen. Wozu eigentlich? Es war kein Vergnügen, zuzusehen, wie Fandur in Rabengestalt davonflog, über das scheußliche graue Tal flatterte, um sich weit draußen mit seinen Kumpanen zu treffen. Lieber hockte sie sich vor den flackernden Kamin und wärmte sich die klammen Glieder auf.
Auch Gora war heute ungewöhnlich schweigsam, aber immerhin hatte sie den Kamin angeheizt und das Frühstück gebracht. Erst als Alina sie bat, ihr das Haar zu kämmen, wurde die Zwergin lebendig und machte sich voller Eifer an die Arbeit. Alina hatte langsam den Verdacht, dass Gora sich absichtlich möglichst ungeschickt anstellte, um so viele rotgoldene Löckchen wie möglich aus dem Kamm zu ernten und in ihrem Ärmel verschwinden zu lassen. Vermutlich stopfte sie das leuchtende Feenhaar in einen Behälter aus Bergkristall, der später in einer der Schatzkammern seinen Platz finden würde. Sie waren schon merkwürdige Wesen, diese hässlichen, braun gekleideten Winzlinge, die Tag und Nacht darauf verwendeten, Löcher und Höhlen in den Berg zu hämmern, um sie mit allerlei unnötigem Zeug anzufüllen.
Tatsächlich verschwand Gora recht bald mit ihrem Schatz im Ärmel, und Alina saß allein vor dem Kamin, löffelte lustlos etwas von dem faden Zwergenbrei, um Gora nicht zu beleidigen, und aß den Rest des Obstes, das Fandur ihr gebracht hatte.
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