Schattengilde 01 - Das Licht in den Schatten
dachte Alec und fragte sich, welche anderen Talente er im Laufe der Zeit noch an Seregil entdecken würde. Neben der Musik vernahm er nun auch plötzlich leise Stimmen. Zunächst zögerte er, dann begab er sich vorsichtig an den Rand der Treppe und versuchte, mehr zu erlauschen. Beide Männer bemühten sich, leise zu sprechen. Er vernahm daher nur Fetzen der Unterhaltung.
»… vor einigen Tagen. Sie machten einen eher friedlichen Eindruck, aber warum waren es so viele?« sagte der Blinde.
»Ganz zweifellos …« Es war schwieriger, Seregils Worte zu verstehen. »Vermutlich mit dem Bürgermeister.«
»Ja, er nennt sich Boraneus und behauptet, Handelsbeauftragter des Hochkönigs zu sein.«
Hochkönig? dachte Alec. Das hatte er schon einmal gehört! Und hatte Seregil nicht gesagt, er wäre nach Norden gesandt worden, um herauszufinden, was die Plenimaraner vorhätten? Alec hielt den Atem an und rückte ein Stück weiter vor, um mehr von der Unterhaltung zu verstehen.
»Kannte sie ihn?« fragte Seregil.
»… letzten Abend … dunkel, gutaussehend … eine Schwertwunde …«
»Welches Auge?«
»Das Linke, sagte sie.«
»Illiors Finger! Mardus?« Einen Augenblick lang klang Seregil völlig überrascht. Der alte Mann murmelte etwas, auf das Seregil antwortete. »Nein, und ich werde alles versuchen, daß er es nicht … mehr Dämon als …«
Beide Männer verhielten sich einen Lidschlag lang völlig ruhig, dann rief Seregil. »Alec! Bist du dort oben eingeschlafen?«
Alec packte geschwind seine alten Kleider zu einem Bündel zusammen, dann wartete er, bis ihm die Verlegenheit nicht mehr anzusehen war.
Der Blick, den ihm Seregil zuwarf, als er eilig die Treppe hinuntereilte, verriet nur Ungeduld, aber er meinte sicher, Seregils Augen im Rücken zu spüren, als er sich damit beschäftigte, ihre Reisekleidung zu packen.
Seregil nahm die Harfe unter den Arm und wandte sich dem Gastgeber zu, um sich zu verabschieden.
»Das Glück in den Schatten sei euch hold«, sagte der alte Mann und drückte ihnen an der Tür die Hände.
»Und dir ebenso«, erwiderte Seregil.
4
Wolde
Wolde, das größte der Handelszentren im Nordland, verdankte seinen Wohlstand der Goldstraße, einem schmalen Stück des Gallistrom-Flusses, und einer winzigen gelben Blume.
Die Goldstraße nahm im Norden ihren Anfang, im Vorgebirge der Eisenkernberge, in denen seit Menschengedenken nach Gold geschürft wurde. Das wertvolle Metall goß man in Kerry in runde, flache Formen, die »Babs« genannt wurden, diese nähte man in quadratische, mit Wolle ausgestopfte Schaffellballen. Die Wolle kam von den Bergschafen der Gegend und war besonders weich und fein und aus diesem Grund ein weiterer Quell des Reichtums der Gegend. Der Ballen diente ursprünglich, das Gold zu schützen, denn auf der Straße lauerten Gefahren. Die Ballen wogen soviel wie zwei Mann und waren somit schwer zu stehlen, aber sie schwammen auf dem Wasser, wenn sie in einen der vielen Flüsse fallen sollten, über die die Karawanenstraße führte. Ochsenkarren trugen sie nach Boersby, dort wurden sie auf Flachboote verladen und nach Folcwine gebracht, dem mycenischen Seehafen von Nanta.
Das Land zwischen Kerry und Boersby war bis auf wenige Distrikte unbesiedelt. Stets schlossen sich viele Händler zu einer von bezahlten Schwertkämpfern und Bogenschützen bewachten Karawane zusammen. Die letzte sichere Zuflucht zwischen dem Schwarzwassersee und Boersby war Wolde, am Ufer des Gallistrom-Flusses.
Anders als der ruhige Brythwin war der Gallistrom gefährlich tief und breit. Sein Quellgebiet lag in den Eisenkernbergen, und er durchquerte den Seewald, um schließlich in den Schwarzwassersee zu münden. Ursprünglich war er nur durch ein langsames, nicht ungefährliches Fährsystem zu überqueren. Wagen, die am Ufer auf die nächste Fähre warteten, waren leichte Beute für Banditen. Andere wurden Opfer des Flusses, wenn die starke Strömung im Frühling die Fähren zum Kentern brachte und Männer, Ochsen und Gold mit sich nahm.
Schließlich wurde eine große Brücke errichtet, und die winzige Siedlung, die sich um die Fährstation gebildet hatte, wuchs zu einem Dorf. Die Gegend hatte, wie sich herausstellte, auch eigene Schätze zu bieten. Pflanzen, aus denen sich Farben für Tuche gewinnen ließen, wuchsen im Überfluß, darunter das gelbe Moorgras, dem der Ort seinen Namen verdankte. Mit dem Farbstoff dieser Pflanzen konnte nahezu jeder Farbton erzielt werden, und die
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