Schattenhaus
entfernt vom Haus gibt es Knollenblätterpilze. Das hat mir Birthe erzählt. An dem Nachmittag davor, als sie zum Champignionsammeln raus ist. Ich habe sie nach den Verwechslungsmöglichkeiten mit Knollenblätterpilzen gefragt, und ob sie sich da nicht fürchtet, und Birthe hat gesagt, nicht weit weg in Richtung dieser Siedlung
Am Neumarkt
gibt es eine Stelle, wo tatsächlich Knollenblätterpilze wachsen. Vielleicht hatte sie die Stelle den Kindern gezeigt. Mit denen war sie in der Woche davor schon Pilze sammeln. Birthe erzählte überhaupt, sie wäre bei schönem Wetter jeden Nachmittag mit den Kindern draußen gewesen. Melli kannte sich in der Gegend sicher gut aus.»
Winter hielt sich bedeckt.
«Und wie ging es dann weiter?», fragte er.
«Birthe wurde gegen Abend krank. Ich hab mir da erst immer noch nichts gedacht. Sie war sich so sicher, dass es ein Norovirus ist. Der kursierte wohl an ihrer Schule.»
Während Birthe sich im Gästebad wieder und wieder erbrach, kam Matthias ein erster Verdacht. Er ging nach oben ins Kinderzimmer. Die Mädchen hatten eine Musik- CD laufen und ein Gummi an einem Stuhl gespannt. Melli hüpfte, und Wolke spielte den zweiten Gummihalter.
«Hallo», sagte Melli, als er eintrat. Sie bemerkte sein ernstes Gesicht. «Hast du Bauchschmerzen?», fragte sie in einem merkwürdigen Ton zwischen ängstlich und gespannt. Da wusste er es. «Nein», sagte er böse. «Mir geht es gut. Aber Birthe geht es sehr schlecht. Sie hat heute Mittag alle meine Pilze aufgegessen.»
Melli klappte der Unterkiefer runter. Sie stand reglos da, ihr Gesicht wurde erst blass, dann glühend rot.
«Wie hat Merle denn reagiert, als Frau Feldkamp krank wurde – und nicht Sie?»
«Erschrocken. Wieso Merle? Sie meinen Melli.»
«Sie heißt Merle. Melli scheint ein Spitzname zu sein, den Frau Feldkamp ihr gegeben hat.»
Einer von den vielen unglücklichen Umständen in diesem Fall, dachte Winter. Hätte Olsberg, als er die Geschichte seiner Anwältin erzählte, von einer Merle geredet statt von einer Melli, dann hätte Manteufel an den Fall Vogel gedacht und sofort überprüft, ob es sich bei den Feldkamp’schen Pflegekindern um die Vogel-Mädchen handelte.
«So», sagte Winter, «jetzt verraten Sie mir mal, warum Sie von Ihrem Verdacht weder der Polizei noch den Ärzten noch Frau Feldkamp etwas erzählt haben.»
«Weil ich mir nicht sicher war. Ich wollte der armen Melli nicht das Leben zerstören. Das war doch alles schlimm genug, ich meine, sie war ja ohnehin gestraft, erst sind ihre Eltern gestorben, dann verliert sie Birthe.»
Er wusste nicht, wie er Birthe das sagen sollte. Er rief bloß durch die Tür, dass er denke, dass es doch die Pilze seien, und hörte sie gequält sagen: «Quatsch, der Norovirus.»
Über allem lag die Angst, man könnte ihm etwas anhängen. Deshalb zögerte Matthias viel zu lange damit, den Notarzt zu rufen. Erst hoffte er, dass es nicht so ernst war und von selbst vorübergehen würde. Aber als Birthe in Ohnmacht fiel, musste er handeln. Wenn er nichts unternahm, würde er sie und sich erst recht gefährden. Er rief die Notrufnummer an, erzählte von einer Pilzmahlzeit und betete, dass die Ärzte an einen Unfall und nicht an eine gezielte Vergiftung denken würden. Als aber Birthes Zustand sich zwei, drei Tage später so verschlechterte, dass man das Ende fürchten musste, da ahnte er, dass er geliefert war. Warum musste ihm das passieren? Nun würde die Sache definitiv von der Polizei übernommen. Die mussten nur seine Identität abgleichen, dann war für die alles klar. Ein verurteilter Mörder, dessen Geliebte an einer Vergiftung stirbt, wenige Tage nachdem er bei ihr eingezogen ist – der konnte wohl kaum erzählen, nicht er, sondern ein siebenjähriges Kind sei schuld. Wer würde ihm glauben? Niemand. Absolut niemand. Und selbst im allerbesten Fall, wenn er den Fahndern im Groben begreiflich machen konnte, was geschehen war, oder wenn Melli die Vergiftung zugab: Selbst dann würden sie ihn garantiert noch wegen sexuellen Missbrauchs einbuchten. Denn sie würden denken, dass Melli einen schwerwiegenden Grund gehabt haben musste, ihn umbringen zu wollen.
Am Ende schien es Gott sei Dank so, als würde Matthias doch nichts angehängt. Birthe starb zwar, aber ihr Tod wurde als Unfall abgetan.
Bis Wochen später Winter auftauchte. Ausgerechnet der Polizist, der Matthias damals dranbekommen hatte, war mit Birthes Tod befasst. Ein Glückspilz war Matthias nicht.
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