Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenherz

Schattenherz

Titel: Schattenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Bliefert
Vom Netzwerk:
Korbstuhl saß. Sie hielt ein etwa einjähriges Mädchen auf dem Schoß. Beide – Mutter und Tochter – lachten in die Kamera.
    Â»Das bin ich«, sagte Christina und zeigte auf die junge Frau, »und das ist meine Tochter. Malin. Da war sie gerade ein Jahr alt.«
    Rita schluckte. Alle Frauen hier im Knast hatten ihre großen und kleinen Geheimnisse. Aber ein Kind, das – wie sie blitzschnell im Kopf nachrechnete – mittlerweile erwachsen sein musste, zu verschweigen und das ausgerechnet ihr, die seit mehr als fünf Jahren den Zellentrakt mit Christina teilte: Das überstieg ihr Vorstellungsvermögen.
    Das zweite Bild stammte eindeutig aus einem professionellen Fotostudio: computerbehandelte Farben, eine nicht definierbare Umgebung und ein auffallend ordentlich frisiertes Kind in durchgestyltem Outfit. Das kleine Mädchen schien – obwohl es auf dem Bild nicht älter als drei, höchstens vier Jahre alt sein konnte – die gekünstelte Atmosphäre zu spüren. Es schaute den Betrachter ernst und skeptisch mit seinen großen, beinahe türkisfarbenen Augen an, ohne die Spur eines Lächelns.
    Â»Sie ist heute bestimmt eine ganz besonders hübsche junge Frau«, sagte Rita. »Warum hast du mir nie was von ihr erzählt?«
    Â»Weil ich hier drin bin und die da draußen«, flüsterte Christina, als könne sie jemand hören, für dessen Ohren ihre Worte nicht bestimmt waren, »und weil er gesagt hat, er tut ihr was an, wenn ich nicht dichthalte.«
    Nachdem sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, waren Malin tausend Fragen eingefallen, die sie Kelly zu ihrem Besuch im Gefängnis stellen wollte. Sie hatte ungeduldig auf ihre Rückkehr gewartet, bis am frühen Abend eine SMS kam, in der Kelly ankündigte, dass sie bei ihrem neuen Lover übernachten wollte. Malin hatte mehrmals versucht, sie zurückzurufen, aber auch beim dritten und vierten Versuch war nur die Mailbox drangegangen.
    Schließlich – es war bereits nach zehn – hatte sie es aufgegeben. Aber an Schlaf war nicht zu denken. Trotz der körperlichen Erschöpfung, die die Gartenarbeit mit sich gebracht hatte, lag sie Stunde um Stunde wach und grübelte über das nach, was Kelly erzählt hatte.
    Hallo, Dakota …
    Wie kommt meine Mutter darauf, dass Kelly mir was antun will?
    Und warum hat sie noch nicht angerufen?
    Aber vielleicht gibt es im Gefängnis ja auch nur bestimmte Zeiten, in denen man telefonieren darf …
    Sie war hin und her gerissen zwischen einer vagen, unerklärlichen Sorge um ihre unbekannte Mutter und den Ratschlägen einer leisen, aber penetranten Stimme in ihrem Kopf, die fortwährend Sprüche wie »Schlafende Hunde soll man nicht wecken« und »Nur wenn du loslässt, bist du frei« daherplapperte.
    Wenn die in der Klinik nicht über mich und meine Mutter geredet hätten, hätt ich wahrscheinlich nie erfahren, dass es sie gibt. Dann wär ich – logischerweise – auch nicht abgehauen. Vielleicht wär ich mittlerweile sogar schon ganz offiziell wieder draußen …
    Sie hielt einen Moment inne, um sich vorzustellen, wie es sich angefühlt hätte, in die Villa und die beiden kahlen, nach frischer Farbe riechenden Räume zurückzukehren, aus denen alle Erinnerungsstücke, alles Persönliche und sämtliche Möbel entfernt worden waren.
    Vielleicht hat Helmut überhaupt nicht damit gerechnet, dass ich jemals wieder nach Hause komme. Vielleicht hatte er schon den nächsten tragischen Zwischenfall geplant: ein Unfall auf der Fahrt nach Hause oder ein erneuter Selbstmordversuch, den seine psychisch kranke Adoptivtochter diesmal mit Erfolg in die Tat umgesetzt hatte.
    Aber er wird mich nicht kleinkriegen, Dakota.
    Mich nicht und meine Mutter auch nicht.
    Hoffentlich nicht.
    Verdammt! Ich muss was tun!
    Nur was?
    Als Anatol aufstand, saß Malin, den Kopf auf die gekreuzten Arme gebettet, an ihrem Schreibplatz. Offenbar war sie dort in den frühen Morgenstunden völlig übermüdet eingeschlafen.
    Anatol brachte sie behutsam hinüber zu ihrem Luftmatratzenlager und deckte sie zu. Durch die mit Brettern vernagelten Fenster fiel kaum Tageslicht, und als Malin schlaftrunken fragte, wie viel Uhr es sei, log Anatol ihr etwas von »… kurz nach Mitternacht« vor, damit sie wenigstens noch ein paar Stunden schlief.
    Als kurz darauf das iPhone klingelte, war

Weitere Kostenlose Bücher