Schattenjahre (German Edition)
ausstieg, war mittelgroß, mit klaren braunen Augen und lockigem Haar. Irgendetwas an ihm wirkte vertraut. Was es war, erkannte Daniel erst später.
Mom stieß einen sonderbaren, fast erstickten Laut aus. Lächelnd ging der Mann auf sie zu, mit ausgebreiteten Armen. „Gareth …“, flüsterte sie unter Tränen. „Es ist so lange her. Nie hätte ich erwartet, dass du uns entgegenkommst.“
„Ich wäre schon früher da gewesen, aber da fingen bei Becky Saunders die Wehen an – ihr fünftes Kind. Du erinnerst dich doch an Becky? Sie war mit uns auf der Schule. Jetzt ist sie mit Simon Carruthers verheiratet. Die Farm seines Vaters liegt drüben bei Haverfordwest. Und das muss Daniel sein. Also, meinen Jungs werden die Augen aus dem Kopf fallen, wenn sie ihn sehen. Knapp sechzehn ist er. Meine sind schon siebzehn und mindestens einen Kopf kleiner. Na, jetzt steigt erst mal ins Auto. Mom hat solche Angst, ihr würdet nicht kommen.“
„Wie geht es ihr, Gareth?“, fragte Daniels Mutter.
„Sie hält sich recht gut. Du kennst sie ja, und wie wir beide wissen, war es nicht immer leicht, mit ihm zu leben.“
„Danny, setz dich nach vorn zu deinem Onkel“, sagte Mom.
Sein Onkel … Gareth war also der Bruder seiner Mutter. Daniel musterte ihn nachdenklich, während er neben ihm auf dem Beifahrersitz saß und versuchte, sich vom Luxus dieses Wagens nicht überwältigen zu lassen. Kein einziger Ryan besaß ein Auto, aber Daniel kannte viele teure Modelle, weil seine Schulfreunde von den Eltern oft in solchen Vehikeln zum Tor gebracht oder abgeholt wurden.
Gareth fuhr einen Volvo-Kombi mit neuem Nummernschild. „Ich wollte dich vor dem Begräbnis verständigen“, bemerkte er, „aber Mom hielt mich davon ab. Sie meinte, das hätte Pa nicht gewünscht.“
Der bedauernde Unterton in seiner Stimme entging Daniel nicht, und er fragte sich, warum Moms Vater dagegen gewesen wäre, dass sie an der Beerdigung teilnehmen würde. Irgendwie hatte sie sich ihrer Familie entfremdet. Das wusste er längst, ohne den Grund zu kennen. Er brachte auch nicht den Mut auf, mit ihr darüber zu reden. Freiwillig schnitt sie das Thema niemals an. Vielleicht hing das alles mit der Ehe seiner Eltern zusammen. Moms Verwandte hatten diese Verbindung wohl ebenso wenig gebilligt wie die Ryans.
„Nun, wie wir hören, hast du einen sehr klugen Sohn, Megan“, fügte Gareth hinzu. „Ein Stipendium, gute Zeugnisse. Das hat Mom uns erzählt. Überall gibt sie mit dem Jungen an.“ Er sprach so freundlich, ohne eine Spur von Bitterkeit und Verachtung. Und das Lächeln, das erDaniel schenkte, unterschied sich so krass vom Hass, den Daniel so oft in den Augen des Vaters gelesen hatte.
Er konnte den netten Mann nur anstarren und ahnte nichts von den Gedanken, die durch Gareth Rees’ Kopf gingen. Armer kleiner Kerl … Nur gut, dass sein Vater nicht mehr lebt und dass Pa jetzt auch tot ist. Der hätte Megan nie so behandeln dürfen … Er selbst hatte damals in Amerika gearbeitet. Nun, das gehörte jetzt der Vergangenheit an. John Ryan war gestorben, Vater Rees auch, und der junge Bursche schien nur gewisse äußerliche Merkmale und ansonsten glücklicherweise sehr wenig von seinem Dad geerbt zu haben.
„Du weißt doch, dass Sarah und ich ins Haus zogen, nachdem Pa in den Ruhestand getreten war. Er kaufte einen dieser neuen Bungalows.“
Megan nickte. „Das hat Mom mir geschrieben. Sie meinte, die Treppe im alten Haus sei für Pa zu beschwerlich gewesen.“
„In den letzten Jahren wurde sein Herz immer schwächer, und sein Temperament war auch nicht gerade gut für ihn. So, da sind wir.“ Gareth drosselte die Geschwindigkeit des Volvos und bog in eine Zufahrt, von dichten Rhododendronbüschen gesäumt. Am Ende des schmalen Sträßchens erhob sich ein Steinhaus mit großen Fenstern zu beiden Seiten der Eingangstür.
Verblüfft blinzelte Daniel. Hier war seine Mutter aufgewachsen? Er dachte an das winzige Haus in Liverpool, das schäbige Bad, die rissigen Linoleumböden, die Vordertür, die direkt auf die Straße führte, den kleinen Hof am Hinterausgang. Und dieses Gebäude stand in einem Garten so riesig wie ein Tennisplatz.
Die Tür öffnete sich, eine schlanke, brünette Frau eilte heraus, umarmte Megan, sobald sie aus dem Auto gestiegen war, und zog sie zum Haus. Daniel musterte sie. Das musste die Ehefrau des Onkels sein, wahrscheinlich so alt wie Mom, vielleicht ein bisschen älter. Aber sie sah ganz anders aus, nicht so müde wie
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