Schattenjahre (German Edition)
Doktor meinte, sie sei sofort tot gewesen. Robert machte sich natürlich bittere Vorwürfe, aber was hätte er denn tun sollen, der Ärmste? Er war so ein guter Ehemann. Es gibt nicht viele Männer, die bei so einer Frau geblieben wären. Es lag wohl am Tod des Babys. Danach war sie völlig verändert. Wenn sie für kurze Zeit hier wohnten, wurde der Vater oft mitten in der Nacht zu ihr gerufen. Und bei der Hochzeit war sie so ein hübsches kleines Ding – noch blutjung, so wie Robert.“
Als Daniel mit seiner Mutter allein war, fragte er: „Was stimmte denn nicht mit Mr Cavanaghs Frau?“ In Wirklichkeit wollte er wissen, warum sich Mom vor ihm fürchtete und warum das außer ihm selbst niemand zu merken schien.
Sie waren zum Tee ins Haus seines Onkels gegangen. Sobald Nana Rees den Besuch Robert Cavanaghs erwähnt hatte, waren Gareth und Sarah voll des Lobes über ihn gewesen.
Anscheinend hatte er nach dem Tod des Vaters dessen Baufirma übernommen und wesentlich vergrößert. Er war nach Cardiff gezogen und dort offenbar höchst erfolgreich.
„Aber er hat seine Heimat nicht vergessen“, hatte Sarah betont. „Als unsere Kapelle ein neues Dach brauchte, schickte er ein Team her, und der Job wurde kostenlos erledigt.“
„Sie hatte ein Baby, ein kleines Mädchen“, berichtete Mom nun mit leiser Stimme. „Nora war so eine hübsche Frau. Damals muss ich fünfzehn gewesen sein. Da wohnte sie mit Robert noch hier. Sie war immer fröhlich gewesen und hatte gern mit den Jungs geflirtet. Manche Leute meinten, sie sei ein bisschen zu kokett gewesen. Eines Tages schob sie den Kinderwagen über die Klippen, und da traf sie diesen Burschen – ob zufällig oder mit Absicht, das weiß ich nicht. Sie unterhielten sich, und Nora muss vergessen haben, die Bremse des Kinderwagens anzuziehen, denn er rollte plötzlich zum Klippenrand. Die beiden versuchten ihn aufzuhalten, kamen aber zu spät. Es war gerade Flut, und die Steilwand fällt an dieser Stelle fast siebzig Meter tief ab. Das arme Kindchen hatte keine Chance. Danach wurde Nora ein anderer Mensch. Oft wanderte sie nachts die Klippen entlang, schluchzte und rang die Hände. Für eine Weile wurde sie in eine Spezialklinik gebracht.“ Seufzend schüttelte Megan den Kopf. „Es ist schrecklich, wenn einer Frau so etwas zustößt. Nun hat sie wenigstens, mit Gottes Hilfe, ihren Frieden gefunden.“
„Und Mr Cavanagh? Wie nahm er es auf?“
„Natürlich brach ihm das Herz, denn er hatte seine kleine Tochter vergöttert. Aber für einen Mann ist so was anders.“
„Bekamen sie keine Kinder mehr?“
„Nein. Nora konnte nicht mehr schwanger werden. Bei der Geburt ihrer Tochter war irgendwas passiert, und die Ärzte erklärten ihr, sie würde nie mehr ein Kind haben. Deshalb traf sie der Verlust ihres Babys besonders schwer.“
Erst später erkannte Daniel, dass dieses Gespräch mit Mom einen Wendepunkt in seinem Leben darstellte. Nun behandelte sie ihn wie einen Erwachsenen, nicht mehr wie einen kleinen Jungen. Nach dem Tod des Vaters war er der Mann in der Familie.
Wann immer er auf den Sommer in Wales zurückblickte, sagte er sich, dass diese Monate zu den glücklichsten in seiner Erinnerung zählten. Die Zwillinge, seine Vettern Andrew und Anthony, über ein Jahr älter als er, hatten seine Gesellschaft begrüßt. In der kleinen Stadt gab es keine Realschule, und hier lebten nur wenige junge Leute. Die Freunde der beiden wohnten in Aberystwyth. Irgendwo fand sich ein Fahrrad für Daniel, und sie fuhren oft zu dritt in die Nachbarstadt, um die anderen Jungs zu treffen. So manchen Nachmittag verbrachten sie am Strand, beobachteten die Mädchen, riefen ihnen herausfordernde Bemerkungen zu. Fröhlich erörterten sie, was sie tun würden, wenn sie Glück hatten und die Mädchen diese gewagten Einladungen annahmen.
Letzten Endes war es Daniel, der zu seiner eigenen Überraschung das Interesse einer Mädchengruppe erregte. Die jungen Damen hatten sich am Strand eingefunden – vorgeblich, um ein Sonnenbad zu nehmen, in Wirklichkeit aber, um die Jungs zu necken.
Im Schatten unter einer Landebrücke absolvierte er reichlich dilettantisch seinen ersten Kuss. Ein teils wohliger, teils schockierender Schauer überlief ihn, als er ungeschickt an der Kleidung des Mädchens zerrte, das sich in seinen Armen wand und ihn ermahnte: „Nein, nicht so – da ist der Verschluss – siehst du’s?“
Vielleicht wegen seiner Größe und der breiten Schultern, wegen des
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