Schattenjahre (German Edition)
Mom, und sie trug andere Kleider. Offenbar musste sie niemals Böden schrubben, denn ihre Fingernägel waren nicht abgebrochen. Ihr dichtes Haar glänzte.
„Megan! Es ist so lange her. Komm doch rein, Mom wartet auf dich. Heute übernachten die Jungs bei Freunden, damit du dich in Ruhe eingewöhnen kannst. Natürlich wohnst du bei Mom, aber wir dachten – nun ja …“
„Vergiss diesen jungen Mann nicht, Sarah“, mahnte der Onkel, eine Hand tröstlich auf Daniels Schulter gelegt, als wüsste er, wie unbehaglich und fremd sich der Junge fühlte.
„Selbstverständlich nicht! Geh nur rein, Daniel! Mom macht uns ganz wahnsinnig, weil sie uns ständig erzählt, wie klug du bist.“
Die Neuankömmlinge wurden durch eine große Halle voller massiver Möbel in einen sonnigen Raum geführt, ebenfalls mit Mobiliar vollgestopft, aber einladend und gemütlich. Eine kleine, immer noch dunkelhaarige Frau saß in einem Lehnstuhl, das Gesicht zur Tür gewandt. Sie stand nicht auf, als sie eintraten, und jetzt merkte Daniel, dass der Sessel ein Rollstuhl war. Sie hatte knotige Hände mit stark angeschwollenen Fingerknöcheln.
„Mom…“ Er hörte die tiefe Rührung in diesem Ausruf seiner Mutter, die zu der Frau im Rollstuhl lief, und in seinen eigenen Augen brannten Tränen.
„Aber Megan, mein Liebes, du musst doch nicht weinen. Setz dich neben mich und erzähl mir, warum es sechzehn Jahre gedauert hat, bis du mir endlich meinen Enkel bringst.“
„Ich konnte es einfach nicht, Mom – Johns und Pas wegen …“ Megans Stimme brach, und er erinnerte sich an die Angst in ihrem Blick, an die roten und blauen Flecken in ihrem Gesicht. Der Hass auf den Vater stieg erneut in ihm hoch, der Hass auf alle Männer, die Gewalt gegen Schwächere anwandten. Und was für ein Mensch musste der Großvater gewesen sein, der nichts vom Leid der Tochter gewusst und sich zu wenig aus ihr gemacht hatte, um herauszufinden, welch ein Leben sie führte?
„Daniel, komm her, und begrüß deine Großmutter!“
Gehorsam trat er neben seine Mutter.
„Das ist also Daniel.“ Graue Augen, von der gleichen Farbe wie seine eigenen, erforschten sein Gesicht, eine verkrümmte Hand umfasste seine Finger. Die Haut fühlte sich papierdünn und heiß an, und er ahnte, dass diese geschwollenen Knöchel vor Schmerzen brennen mussten. Hinter dem sanften Lächeln schien sich tiefes Leid zu verbergen. „Ein netter Junge, Megan, und so klug.“
Er wurde rot vor Verlegenheit. Nie hatte er vergessen, was seine schulischen Leistungen ermöglichte – Moms harte Arbeit und Nana Rees’ Großzügigkeit. Ohne den Beistand dieserbeiden hätte er das Stipendium nicht wahrnehmen können. Und jetzt, wo er der alten Frau versichern wollte, wie tief er in ihrer Schuld stehe, fand er keine Worte. Er starrte sie nur an und kam sich schrecklich albern vor.
„Ihr bleibt doch eine Weile hier?“ Daniel wandte sich zu seinem Onkel, der diese Frage an Mom richtete.
„Das würden wir gern …“
„Hier hattest du immer ein Zuhause, Megan, das weißt du.“
Sie schüttelte den Kopf. „Nicht zu Pas Lebzeiten. Ich tat ihm so weh, als ich John heiratete.“
„Nun ja, er hatte große Hoffnungen in dich gesetzt“, bemerkte Nana Rees. „Du solltest in Gareths Fußstapfen treten und Ärztin werden.“
Verwundert hob Daniel die Brauen. Seine Mutter – eine Ärztin? Darauf wäre er nie gekommen, während sie ihm stundenlang bei den Schulaufgaben geholfen und ihn immer wieder ermutigt hatte. So viel wäre ihr in einem anderen Leben geboten worden. Und stattdessen hatte sie seinen Vater geheiratet.
Er war nicht dumm. Und zählen konnte er schon seit dem Vorschulalter. Fünf Monate nach der Hochzeit seiner Eltern hatte er das Licht der Welt erblickt. Sein Herz blutete um seiner Mutter willen. Wie war ihr zumute gewesen, als sie ihre Schwangerschaft festgestellt und gewusst hatte, sie würde den Vater des Babys heiraten müssen? Sie musste ihn geliebt haben, so unvorstellbar das jetzt auch erschien.
Die Großmutter schlug vor, noch Tee zu trinken, ehe sie zum Bungalow aufbrachen. Aber Sarah bestand darauf, sie alle zum Abendessen einzuladen. Daniel ließ sich vom lebhaften Gespräch umschwirren, stand am Fenster und schaute hinaus.
„Alles in Ordnung, mein Junge?“
Er zuckte zusammen, als er die freundliche Stimme seines Onkels hörte, die Hand auf seinem Arm spürte. „Ja … Ich habe nur überlegt, ob man von hieraus das Meer sehen kann. Alles ist ganz anders als
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