Schattenjahre (German Edition)
Nacht mit einer ziellosen Wanderung durch Cardiff. Er kehrte erst sehr spät nach Hause zurück, aber in der Halle und im Wohnzimmer brannte noch Licht.
Als er die Tür aufschloss und eintrat, kam Robert ihm entgegen. „Ich würde gern mit dir reden, bevor du schlafen gehst, Danny.“
Seltsam – Robert war der Einzige, der ihn immer noch Danny nannte. Hielt er ihn für einen kleinen Jungen? Widerstrebend folgte er dem Stiefvater ins Wohnzimmer.
„Falls du über diesen Nachmittag sprechen willst“, begann Daniel aggressiv, „ich dachte …“ Er verstummte, schüttelte verwirrt den Kopf und fürchtete, sich noch mehr zum Narren zu machen, als er es ohnehin schon getan hatte.
„Was hast du gedacht, Danny? Dass ich deine Mutter geschlagen habe, so wie früher John?“ Das Blut stieg in Daniels Wangen, und er konnte nicht in Roberts Augen schauen. Plötzlich glaubte er dem Vater zu gleichen, von ähnlicher Angriffslust befallen zu sein – und unfähig, sein Temperament zu zügeln, seine Reaktionen zu kontrollieren. Würde auch er seine Kraft nutzen, um Schwächere zu peinigen? „Ich weiß alles über John, Danny.“
„Immer wieder wollte ich ihn zurückhalten – aber ich konnte es nicht. Ich hatte Angst …“ Wieder unterbrach sich Daniel, wusste nicht, woher diese Worte stammten, erkannte erst jetzt, wie verzweifelt er stets über sein Unvermögen gewesen war, Mom zu beschützen.
„Natürlich konntest du es nicht. Außerdem …“ Robert musste sich bewegt haben, denn plötzlich stand er neben ihm und umfasste tröstend seinen Arm – so als würde er alles verstehen. „Und vielleicht ist es gut, dass du dich nicht eingemischt hast. Das hätte die Situation nur noch verschlimmert. Und es war nicht allein Johns Schuld. Auch ich trage eine gewisse Verantwortung. Setzen wir uns aufs Sofa, Danny. Ich muss dir etwas erzählen. Deine Mutter und ich hätten dich schon vor unserer Hochzeit informieren sollen, aber ich wollte dir Zeit geben, mich kennenzulernen, ehe du mich verurteilst. Und jetzt …“
Daniel starrte ihn an. Er wusste nicht, was der Stiefvater meinte, warum sein Gesicht so ernst war.
„Du weißt, dass ich schon einmal verheiratet war, Danny?“
„Ja …“
„Nach dem Verlust unseres Babys erlitt Nora einen Nervenzusammenbruch. Unser Arzt meinte, sie solle eine Zeit lang bei ihrer eigenen Familie bleiben, also zog sie zu ihren Eltern. Ich lebte allein. Deine Mutter kannte ich nur flüchtig, Gareth und ich waren zusammen auf die Schule gegangen. Eines Tages kam er wegen irgendwelcher Geschäfte zu mir ins Büro und brachte sie mit. Sie war siebzehn, das hübscheste Mädchen, das ich je gesehen hatte. Und wenn sie lächelte … Es lohnte sich wirklich, sie zum Lächeln zu bringen. Ich vergaß völlig, was Gareth von mir wollte. Er ging weg, um irgendwas in der Stadt zu erledigen, und Megan blieb bei mir. Sie erklärte mir, sie wolle Ärztin werden. Damals besuchte sie noch die Schule in Aberystwyth – und dort lernte sie auch deinen Vater kennen. Man legte gerade eine neue Straße an, und er arbeitete auf der Baustelle. Offenbar gefiel sie ihm, und er überredete sie, nach der Schule Kaffee mit ihm zu trinken. Ich glaube, schon damals fürchtete sie sich ein bisschen vor ihm.
Nachdem wir uns voneinander verabschiedet hatten, musste ich ständig an sie denken und fand immer neue Gründe, um deinen Großvater zu besuchen und sie zu sehen. Wie ich feststellte, ging sie gern spazieren, und ich lag deiner Großmutter so lange in den Ohren, bis sie mir erlaubte, mit Megan eine Wanderung an der Küste zu unternehmen, von St. David’s aus. Es war ein heißer Sommertag, die Luft so blau, das Meer so still. Mir fehlen die Worte, um dir zu erklären, warum, ich tat, was ich nicht hätte tun dürfen. Megan war noch ein Kind, ich ein verheirateter Mann. Aber als meine Lippen ihre berührten, erwiderte sie den Kuss so süß und betörend, dass es mir den Atem nahm, dass ich die Beherrschung verlor. Ich hatte nicht die Absicht, das schwöre ich, wollte sie nur lächeln sehen. Und danach … Ich war wie betäubt von dem, was geschehen war, von dem, was ich empfand. Vor der Ehe hatte ich mit ein oder zwei Mädchen geschlafen. Aber deine Mutter … Natürlich war sie genauso verstört. Ich wollte ihr versichern, wie sehr ich sie liebte, wie sehr ich sie begehrte – aber wie konnte ich das? Also begleitete ich sie nach Hause und beschloss, am nächsten Tag wiederzukommen, sie um Verzeihung zu bitten.
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