Schattenjahre (German Edition)
Doch in jener Nacht erhielt ich einen Anruf von meiner Schwiegermutter, die mir mitteilte, Nora habe versucht, Selbstmord zu verüben, und sei wieder ins Krankenhaus eingeliefert worden. Selbstverständlich musste ich zu ihr fahren. Sie war sehr krank, körperlich und seelisch. Die Ärzte erklärten mir, es würde ihr helfen, wenn ich mit ihr verreiste, irgendwohin, wo sie nichts an unser Kind erinnerte.
Wir verbrachten vier Monate in Südfrankreich. Bei meiner Rückkehr war deine Mutter bereits mit John Ryan verheiratet und erwartete ein Kind, das wurde zumindest von den Klatschmäulern behauptet. Da begriff ich erst so richtig, wie sehr ich sie liebte. Gleichzeitig hasste ich sie beinahe, weil sie mit einem anderen zusammenlebte. Wie diese Ehe zustande gekommen war, wusste ich nicht, und ich erkundigte mich auch nicht nach Einzelheiten. Erst später erfuhr ich, dein Großvater sei gegen die Hochzeit und schließlich nur deshalb einverstanden gewesen, weil Megan ihm von ihrer Schwangerschaft berichtet habe. Er gelobte, bis an sein Lebensende nie wieder ein Wort mit ihr zu wechseln. So ein Mann war er nun mal, mit sehr strengen Grundsätzen. Und Megan, sein Lieblingskind, hatte ihn bitter enttäuscht. Im Lauf der Jahre wurde gelegentlich über deine Mutter gesprochen. Ich versuchte, meine Ohren zu verschließen, denn den Gedanken an ihr Glück mit einem anderen ertrug ich nicht. Die Zeit lindert den Kummer, kann ihn aber nicht völlig verscheuchen. Und dann starben Nora und dein Vater. In der Küche deiner Großmutter sah ich Megan nach all den Jahren wieder und wusste, dass ich nie aufgehört hatte, sie zu lieben.“
„Aber sie schien sich vor dir zu fürchten.“
„Nicht vor mir, Danny“, erwiderte Robert sanft. „Sie hatte Angst, ich würde bei deinem Anblick merken, dass du nicht John Ryans Sohn bist, sondern meiner.“
Das Zimmer schien sich um Daniel zu drehen. Er musste aufgeschrien haben, denn Robert legte ihm einen Arm um die Schultern und sagte mit gepresster Stimme: „Tut mir leid, mein Junge, ich weiß, es ist ein Schock für dich. Auch für mich war es ein Schock, als ich hörte, wie viele Jahre deine Mutter gelitten hatte, nur um mich zu schützen. Sie war nur John Ryans Frau geworden, um meinem Kind einen Namen zu geben und einen Skandal zu vermeiden, der mich ruiniert hätte. Hätte ich es gewusst – ich stelle mir gern vor, dass ich dann richtig gehandelt, Nora verlassen und deine Mutter geheiratet hätte. Sicher wäre das mein Wunsch gewesen, aber wie Megan sagte – wie hätte ich mich von der armen Nora trennen können? Und doch, wenn ich mir das Unglück deiner Mutter ausmale … Jedenfalls bist du mein Sohn, Danny. In dir steckt nichts von John Ryan.“
Roberts Sohn … Daniel bemühte sich immer noch, den Schock zu verkraften.
Sonderbarerweise verspürte er nicht das Bedürfnis, es zu bestreiten, und auch keine Zweifel an der Wahrheit des Geständnisses. Vielmehr glitt eine weitere Bürde von seiner Seele. Nie mehr musste er befürchten, eines Tages das Ebenbild des grausamen John Ryan zu werden. Aber in die Erleichterung mischten sich Kummer und Verwirrung – Kummer, weil er nun wusste, warum Mom ihre unglückselige Ehe auf sich genommen hatte, und Verwirrung über seine neue Identität. Er war kein Ryan, sondern ein Cavanagh – ein Fremder.
„Denk nicht zu schlecht von mir, mein Sohn“, bat Robert. „Wir alle tun Dinge in unserem Leben, die wir später bereuen, handeln manchmal gedankenlos oder unvorsichtig. Meine schmerzlichste Reue gilt dem Leid, das ich deiner Mutter zufügte – denn sie musste die Last meiner Sünde tragen. Dass ich ihr Kind gezeugt habe, betrachte ich als die schönste Errungenschaft meines Lebens. Für mich bist du ein Himmelsgeschenk, Danny. Ich ersuche dich nicht, mich wie einen Vater zu lieben – wie könnte ich? Mir fällt es viel leichter, dich als meinen Sohn zu lieben. Aber ich bin dein Vater, und ich schwöre dir, mein Bestes zu tun, um deiner Mutter neuen Kummer zu ersparen – und mag er noch so geringfügig sein …“
Roberts Sohn, nicht John Ryans Sohn. Kein Ryan, sondern ein Cavanagh. Nicht halb irisch, halb walisisch, sondern ganz und gar walisisch … Als Daniel im Bett lag, schloss er die Augen, versuchte die überwältigende Neuigkeit zu akzeptieren und fragte sich, ob ihm das jemals gelingen würde.
15. KAPITEL
Während Daniel nach dem Abschluss seines Betriebswirtschaftsstudiums an der Universität einen Kurs für Hoch- und
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