Schattenjahre (German Edition)
Erwachsene erkannte sie, wie selten es Menschen wie David gab. Sie verstand, dass Faye ihn schmerzlich vermisste. Auch ihr selbst fehlte er. In den wilden Jahren nach der Trennung von Scott wäre ihr Bruder genau der Richtige gewesen, den sie um Rat bitten, dem sie sich anvertrauen, dem sie hätte gestehen können, wie schmählich sie sich von dem geliebten Mann betrogen fühlte. Aber David lebte nicht mehr. Sie fand kein Ventil für ihr Leid, klammerte sich nur an ihre Wut, die sie gegen Scott und seinen Vater richtete – und aus absurden Gründen auch gegen Daniel Cavanagh, vielleicht aus dem Gefühl heraus, dadurch eine Tür für Scott offen zu lassen, falls er sich doch noch anders besinnen und in ihr Leben zurückkehren sollte. Oder weil sie irgendwo im Unterbewusstsein annahm, nur Daniel wäre stark und selbstsicher genug, um ihren Zorn zu akzeptieren …
Natürlich wusste sie, wie unlogisch es wäre, wenn sie Daniel Schuld an McLarens Entschluss gäbe, seinen Sohn nach Hause zu holen, oder an Scotts Weigerung, mit ihr in Verbindung zu treten.
Niemandem hatte sie ihren Ekel, ihr Entsetzen über die eigene sexuelle Reaktion auf Daniels intime Liebkosungen gestanden und auch niemandem erzählt, dass er sie zurückgewiesen hatte. Warum nicht? Sie runzelte die Stirn. Schämte sie sich dieser Gefühle oder ihres Verhaltens? Oder weil sie glaubte, nicht einmal David hätte dies begriffen, wäre er noch am Leben gewesen? Instinktiv erkannte sie, dass er ihre verborgenen sinnlichen Bedürfnisse nicht geteilt hatte. Für ihn war Sex kein menschliches Element gewesen, sondern eine Gottesgabe, geheiligt durch die Zeugung von Kindern. Ihm fehlte Sages intensive Neugier auf andere, auf deren Beweggründe, auf deren Geheimnisse. David zog es vor, nicht allzu genau in die dunklen Tiefen der Menschenseele zu schauen, während sie selbst zu ihrem eigenen Erstaunen oft herausfinden wollte, was andere motivierte, nicht nur in sexueller, sondern auch in emotionaler Hinsicht.
Ja, sie hatte David innig geliebt, und sie vermisste immer noch seine beruhigende Sanftmut undGüte. Es überraschte sie ein wenig, dass Faye – mittlerweile eine reife, attraktive Frau – niemals auf ihre Beziehung zu David zurückblicken und zu erkennen schien, wie unfähig er gewesen wäre, ihre im Lauf der Jahre vermutlich wachsenden sexuellen Wünsche zu erfüllen. Faye war nicht gefühlskalt, aber noch nicht erweckt. Das glaubte Sage zu wissen. Und nach allem, was sie inzwischen über ihre Mutter erfahren hatte, musste es auch dieser klar gewesen sein. Hatte sie deshalb eine schützende Hand über die Schwiegertochter gehalten? Nicht weil sie ihr mehr Liebe schenkte als der Tochter oder die bescheidene Zurückhaltung der jungen Witwe billigte und dem eigenen ungebärdigen Kind als leuchtendes Beispiel präsentieren wollte, sondern weil sie in Faye eine Verletzlichkeit und Angst spürte, die Sage zu ihrer Zerknirschung erst jetzt wahrnahm?
Warum hatte sie nie zuvor bemerkt, wie nervös Faye vor den Männern zurückschreckte, wie unwohl sie sich in männlicher Gesellschaft fühlte. Diese Furcht war nicht von David verursacht worden, mochte aber erklären, warum sie ihn geheiratet und sich nach seinem Tod in die Obhut der Schwiegermutter begeben hatte.
Und nun, in Liz’ Abwesenheit, begann Sage hinter Fayes ruhiger, gefasster Fassade die wahren Empfindungen zu sehen – und die Gefahr einer zu starken inneren Anspannung, in die sich die Schwägerin brachte.
Heute Abend, wenn Faye nach Hause kommt, werde ich mit ihr reden, beschloss Sage, sie ermutigen, mir alles anzuvertrauen … Natürlich bedeutete ihr die Familie etwas. So war es schon immer gewesen, auch wenn sie sich das nur selten eingestand. Als Kind hatte sie unter dem Schatten der väterlichen Abneigung, der mütterlichen Kälte gelebt. Im Gegensatz zu anderen Mädchen in einer ähnlichen Lage hatte sie später nicht die Anerkennung der Männer gesucht, sondern diese bestraft – für die ablehnende Haltung des Vaters. Die meisten hatten das zugelassen – nur Daniel nicht.
Daniel, Daniel … Ihre Gedanken bewegten sich im Kreis und kehrten stets zum Ausgangspunkt zurück. Daniel Cavanagh … würde er anrufen oder ihr Ultimatum ignorieren?
Sie begann zu zittern, holte tief Atem und blätterte im neuen Tagebuch. An den Morgen wollte sie nicht denken, sich nicht mehr in dummen Erinnerungen verlieren, ihrem Körper nicht mehr erlauben, den Verstand auszuschalten.
Rasch las sie die kurzen
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