Schattenjahre (German Edition)
erwachte.
Im Garten pflückte sie frische Blumen und trug sie ins Haus. Während sie eine Vase füllte, läutete das Telefon. Mit zitternden Fingern hob sie den Hörer ab. Doch es war nicht Lewis, und sie beantwortete automatisch die Frage des Anrufers nach Edwards Befinden.
Der Kummer in ihrem Herzen wuchs. Wie wundervoll wäre es, Lewis’ Frau zu werden. Alles wollte sie dafür geben. Aber sie war nicht frei, durfte andere nicht leiden lassen, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen.
Die Ambulanz traf ein, Sanitäter halfen Edward in den Rollstuhl. Erschrocken stellte Liz fest, wie dünn er geworden war. Chivers erklärte den Männern, wohin sie ihn bringen sollten. Sie schaute ihnen zu, ein Zentnergewicht schien auf ihrer Seele zu liegen.
Als Edward sie ansah, zwang sie sich zu einem Lächeln und ging zu ihm. Er nahm ihre Hand und drückte sie so fest, dass es schmerzte. „Ich will nicht wieder ins Krankenhaus, Liz.“ Wie er sich in dieser Woche verändert hatte … Er war kein Mann mehr, nur noch ein abhängiges Kind. Lag es an dem neuen Medikament, oder steckte noch mehr hinter dieser Entwicklung?
Fröstelnd folgte Liz den Sanitätern, die den Rollstuhl ins Haus schoben. Vierundzwanzig Stunden – diese Frist hatte Lewis ihr zugebilligt.
Chivers machte Tee in der Küche, und Liz brachte Edward inzwischen ins Bett. Wieder nahm er ihre Hand. „Ian erzählte mir, was ich dir angetan habe. Ich wollte dir nicht wehtun …“ Tränen schimmerten in seinen Augen. „Verlass mich nicht – niemals …“
Sie konnte nicht sprechen. Verzweiflung schnürte ihr die Kehle zu. Als Chivers den Tee servierte, floh sie in ihr Zimmer, warf sich aufs Bett und wünschte, sie bräuchte nur die Lider zu schließen, um alle Probleme zu verscheuchen.
Eine Stunde später kam Chivers zu ihr, die Stirn sorgenvoll gerunzelt. „Der Major, Madam … Ich fürchte, es geht ihm sehr schlecht.“
„Was ist denn los?“
„Anscheinend hat er Fieber.“
Sie eilte in Edwards Zimmer. Seine Augen glänzten viel zu hell in dem geröteten Gesicht. „Wir sollten Ian verständigen“, sagte sie leise zu Chivers.
Der Arzt untersuchte den Patienten und diagnostizierte einen Magen-Darm-Katarrh. „Diese Infektion brach auf der Entbindungsstation aus. Normalerweise müsste das Abwehrsystem eines Erwachsenen stark genug sein, um die Viren zu bekämpfen, aber in Edwards Fall …“
Liz entnahm Ians grimmiger Miene, wie ernst es um ihren Mann stand. Während sie miteinander sprachen, klingelte das Telefon. Das konnte nur Lewis sein, der vermutlich wissen wollte, ob sie schon mit Edward gesprochen hatte. Die vierundzwanzig Stunden waren noch nicht abgelaufen. Doch sie brachte es nicht fertig, ihm zu erklären, was geschehen war – nicht in Gegenwart des Doktors. Und so ging sie nicht an den Apparat.
„Dein Mann braucht ständige Pflege“, warnte Ian. „Soll ich dir eine Schwester schicken?“
Sie schüttelte den Kopf. „Mit Chivers’ Hilfe werde ich’s schon schaffen. Und Edward ist ohnehin schon so aufgeregt. Eine fremde Person im Haus würde ihn noch mehr irritieren.“
„Da hast du recht. Tut mir leid, dass er sich in der Klinik angesteckt hat. Aber der Aufenthalt dort war notwendig. Nur auf diese Weise konnte sein Zustand stabilisiert und die Dosierung des Medikaments bestimmt werden.“
In der Nacht hielten Liz und Chivers abwechselnd bei dem Patienten Wache. Zweifellos war Edward schwer erkrankt. Meistens befand er sich im Delirium. Erst im Morgengrauen beobachtete Liz erschöpft, wie er in einen unruhigen Schlaf sank, und gestand sich die schmerzliche Wahrheit ein.
Sosehr sie es auch wünschte, sie durfte ihn nicht verlassen. Sonst würden ihre Schuldgefühle die Beziehung zu Lewis belasten und möglicherweise zerstören. Tränen stiegen in ihrer Kehle hoch, die immer noch von Edwards Würgegriff brannte. Die äußeren Male waren mittlerweile fast verschwunden. Ian hatte ihr versichert, solange Edward das neue Medikament nehme, würden sich die Wutanfälle nicht wiederholen. Wenn der Kranke doch etwas kräftiger wäre, in etwas stabilerer Verfassung – dann könnte sie sich reinen Gewissens von ihm trennen. Wäre er bloß nicht so abhängig von ihr …
Falls sie von hier wegging, konnte er nicht allein im Haus Cottingdean bleiben. Man müsste ihn in ein Heim bringen, und was dann mit ihm geschehen würde, wusste Liz. Es würde ihn umbringen. Und sie hätte sein Todesurteil abgezeichnet. Warum? Damit sie ihr Glück an
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