Schattenjahre (German Edition)
nicht, zu versunkenen ihrer panischen Angst.
Vic sprach sie an, berührte sanft und zögernd ihren Ellbogen. Da hob sie den Kopf, und bei seinem Anblick seufzte sie erleichtert auf. Die seltsame Feindseligkeit, die sie ihm normalerweise entgegenbrachte, löste sich in nichts auf. Nur eins zählte – sie war nicht mehr allein. Sie ließ sich beim Arm nehmen, den Weg hinabführen, bekämpfte mit aller Kraft die Schmerzen und stieß zwischen klappernden Zähnen hervor: „Vic – das Baby …“
Nachsichtig schaute er sie an. Sie war so stark, dass er ihre Jugend manchmal vergaß. Zu jung, um mit Edward verheiratet zu sein … Nein, so etwas durfte er nicht denken. Sie war Edwards Frau.
„Ich – ich muss nach Hause …“, stammelte sie.
Vic hatte bemerkt, in welch kurzen Abständen die Wehen kamen. Sie würden Haus Cottingdean nicht rechtzeitig erreichen, vielleicht nicht einmal die Schäferhütte. Wie er wusste, war es ungewöhnlich, dass eine Erstgeburt so schnell voranschritt. Darauf konnten schlimme, manchmal fatale Blutungen folgen. Wann immer sich bei einem seiner erstgebärenden Mutterschafe die Wehen zu schnell beschleunigten, bereitete ihm das große Sorgen. Und diese Sorgen verzehnfachten sich nun, während er Liz zu seiner Hütte geleitete.
Als sie merkte, wohin er sie führte, blieb sie bestürzt stehen. „Nein, Vic – ich muss nach Hause … das Baby …“
„Das wird zu früh kommen“, erwiderte er mit ruhiger Stimme. „Die Hütte liegt näher.“
Ihr Atem stockte. Was behauptete er da? Wie konnte er das wissen? Und doch erkannte sie irgendwie, dass er die Wahrheit sagte. Neue Panik erfasste sie. „Dr. Holmes …“
Voller Mitleid las er die wilde Furcht in ihren Augen und verschwieg, was er dachte – es war keine Zeit mehr, den Doktor zu holen, nur noch Zeit, dem Baby ans Licht der Welt zu verhelfen. Seine Hand, die ihren Arm noch fester umschloss, schien sie zu beruhigen. Willig folgte sie ihm in seinen kleinen Hof.
Sie war nie zuvor in der Hütte gewesen. Die Küche blitzte vor Sauberkeit, der Tisch war so blank gescheuert wie ihr eigener. Der Duft eines Eintopfs, der auf dem Herd köchelte, stieg ihr in die Nase. Zu ihrer Verblüffung empfand sie Hunger. Dann setzten die Schmerzen abrupt wieder ein, fordernd und zwingend. In ihrem Kopf drehte sich alles, und sie nahm kaum wahr, wie Vic sie nach oben führte, in das kleine kalte Zimmer, wo sein Großvater früher geschlafen hatte, und keine Möbel außer einem Bett standen.
Liz merkte, wie die Matratze unter ihr nachgab. Starke Hände zogen ihr das weite Kittelkleid aus, eine sanfte Stimme sprach auf sie ein, während die Wehen ihren Leib zu zerreißen drohten, nur für kurze Zeit verebbten, um dann noch heftiger als vorher zurückzukehren.
Sie hörte sich aufschreien und jemanden antworten, spürte die Kraft des neuen Lebens in sich, das immer energischer auf seine Rechte pochte, fürchtete die Gefahren der Niederkunft für ihr Baby und sich selbst. Offenbar hatte sie dieser Angst Ausdruck verliehen, denn jemand tröstete sie.
Draußen wurde es dunkel, der Winternachmittag ging in die Abenddämmerung über. Vic hatte mehr Geburten mit angesehen, als er zählen konnte, aber jede war etwas ganz Besonderes, etwas Magisches – ein Moment außerhalb von Raum und Zeit, ein Moment, wo ein Mensch sich angesichts dieses Wunders unsterblich fühlen mochte. Aber nie zuvor hatte er das Ereignis so intensiv miterlebt, nie zuvor war er von so tiefer Demut ergriffen worden wie jetzt, wo dieser kleineJunge zur Welt kam.
Wenn Liz zuvor vage geglaubt hatte, diese Situation würde sie verlegen machen, so waren solche Emotionen längst verflogen. Nur Dankbarkeit erfüllte sie, begleitet von einem Gefühl inniger Verbundenheit mit Vic, der ihr jetzt das Baby übergab. Es war ihr nicht im Mindesten peinlich, als er das Kind an ihre Brust legte, denn seine Bewegungen erschienen ihr ganz natürlich und selbstverständlich.
Als er erklärte, er müsse das Kopfende des Bettes anheben und würde einige Bretter unter die Pfosten schieben, akzeptierte sie es, ohne ihren starken Blutverlust wahrzunehmen. Behutsam führte er sein Vorhaben durch. Von irgendwo hatte er ein Schaffell geholt und das Neugeborene darin eingewickelt. Er sagte, der Pelz würde die Körperwärme des Babys bewahren.
„Ich denke, ich werde es David nennen“, murmelte sie schläfrig.
„Ein schöner Name“, stimmte er zu, „ein königlicher Name.“
Sie war völlig erschöpft
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