Schattenjahre (German Edition)
leid. „Ich glaube, hinter ihrer brüsken Fassade ist sie eher scheu. Die beiden leben ziemlich isoliert in dem riesigen leeren Haus. Der Bruder ist ans Bett gefesselt und hat oft starke Schmerzen. Sie haben keine Verwandten und nur wenige Freunde.“
Daran erinnerte sich Liz nun. Unbehaglich teilte sie der Besucherin mit, man könne in Haus Cottingdean nur die Küche bewohnen, und führte sie hinein. Sie wünschte, Edward würde nicht gerade jetzt seinen Nachmittagsschlaf halten. Mit seiner Unterstützung hätte sie die Situation besser gemeistert.
„Das riecht aber gut“, meinte Lady Harriet, und Liz schenkte ihr ein zögerndes Lächeln. Edward war ein wählerischer Esser, und sein Appetit musste stets mit verlockenden Köstlichkeiten angeregt werden. Im Haushalt ihrer Tante hatte es an Waschtagen nur kalten Braten, Brot und saure Gurken gegeben. Doch an diesem Montag war Liz zeitig aufgestanden, um Brot zu backen, und im Backofen brutzelte ein Hähnchen für das Dinner.
Sie bot ihrem Gast Platz und eine Tasse Tee an, dann verkündete Harriet Fane. „Ich bin wegen Chivers gekommen.“
Liz wartete unsicher. Sie hatte keine Ahnung, wer oder was Chivers sein mochte. War eines von Lady Harriets Pferden davongelaufen? „Chivers?“, wiederholte sie höflich.
„Ja – Georges Kammerdiener. Er hat ihm jahrelang gedient und ihn in letzter Zeit praktisch am Leben erhalten. Der beste Krankenpfleger, den man sich nur wünschen kann, hat George immer gesagt, und auch sonst gut zu gebrauchen. Jetzt muss ich eine neue Stellung für Chivers finden. Und da ich erfuhr, Sie würden jemanden suchen …“
Liz’ Herz wurde schwer. Sicher, sie hatte Edward endlich überredet, eine Hilfskraft einzustellen, die ihr die schwerere Hausarbeit abnehmen würde. Sie hasste es, das Haus immer mehr verfallen und den Garten verwildern zu sehen – insbesondere, weil sie wusste, dass sich die Schäden mit ein bisschen Mühe und geringem Kostenaufwand beheben ließen. Dazu brauchte man nur ein paar fleißige, geschickte Hände. Sie hatte gehofft, unter den Kriegsheimkehrern jemanden zu finden, der ein bisschen was von Bau- und Gartenarbeiten verstand und den Brennholzvorrat regelmäßig auffüllen würde. Aber sie stellte sich einen jungen, kräftigen Mann vor, keinen bejahrten Kammerdiener, der wahrscheinlich die Nase rümpfen würde, wenn man ihm so schweißtreibende Pflichten zumutete. Außerdem würde er ein hohes Gehalt verlangen. Verlegen erklärte sie der Besucherin die Lage.
„Oh, das ist schon in Ordnung“, erwiderte Harriet Fane. „Chivers braucht nicht viel, und George hat ihn fast nie bezahlt, wie ich gestehen muss. Nein, ich will nur einen passenden Platz für ihn finden. Er steht ganz allein auf der Welt, und er ist wirklich ein guter Kerl.“
Fieberhaft suchte Liz nach einer weiteren Ausrede, aber es fiel ihr nichts Besseres ein als: „Es ist sehr freundlich von Ihnen, an uns zu denken, aber natürlich muss Edward entscheiden …“
„Chivers ist genau der richtige Mann für ihn, meine Liebe.“ Harriet stand auf. „Dann wäre ja alles geregelt. Morgen schicke ich Chivers herüber.“
„Morgen …“ Liz starrte sie an und klammerte sich an den letzten Strohhalm. „Aber – vielleicht will er gar nicht für uns arbeiten …“
„Unsinn! Hier wird’s ihm besser gefallen als in Fane Place, wo er seit Georges Tod nur Trübsal bläst. Jetzt muss ich gehen und die Pferde füttern.“
Hilflos begleitete Liz die Besucherin zur Haustür, dann beobachtete sie, wie Harriet in einem verrosteten uralten, ratternden Morris davonfuhr. In der Küche füllte sie ihre Teetasse ein zweites Mal und setzte sich. Selbstverständlich würde Edward wütend sein, und das mit Recht. Aber sie hatte einfach keine Mittel und Wege gefunden, um die Lady von ihrem Plan abzubringen.
Erst nach dem Dinner informierte sie Edward über die Neuigkeit. Wider Erwarten ärgerte er sichnicht, und Liz merkte, dass es im Gesellschaftscode ihres Mannes immer noch viele Aspekte gab, die sie nicht verstand. Er schien es keineswegs seltsam zu finden, dass der Kammerdiener des verstorbenen Lord George wie ein Paket von einem Haushalt in den anderen transportiert werden sollte. Im Gegenteil, er fühlte sich sichtlich geschmeichelt, weil Lady Harriet in Haus Cottingdean eine passende Bleibe für den plötzlich arbeitslos gewordenen Mann sah. Er benahm sich, als würde die alte Dame ihnen einen großen Gefallen tun. Und das ist gewiss nicht der Fall,
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