Schattenjahre (German Edition)
das Leben geschenkt hatte, sollte es niemand erfahren.
David war der Sohn Edwards, der viel mehr Aufhebens um ihn machte als die Mutter. Anfangs hatte es ihn gestört, dass sie den Säugling stillte. Nach seiner Ansicht taten Damen so etwas nicht. Doch Ian Holmes vertrat aufgrund seiner Herkunft aus dem rauen Norden ziemlich radikale Ideen und erklärte ihm energisch, mit Muttermilch könne man das Kind sparsam und gesund ernähren, im Gegensatz zu dem chemischen Zeug, das es im Lebensmittelladen gab.
David hatte sich prächtig entwickelt. Jetzt, mit sechs Monaten, war er ein zufriedenes, kugelrundes Baby mit einem dicken dunklen Haarschopf und ernsten blauen Augen, die allmählich in Grau übergingen. Die Haut war sanft gebräunt, weil er oft in einem Korb neben der Mutter lag, wenn sie im Garten arbeitete. Die Ziegen hatten gute Arbeit geleistet. Irgendjemand – sie tippte auf Ian Holmes oder Vic – hatte Jack Lowndes überredet, ihr im Frühling zwei Angestellte zu überlassen, unter deren fachkundigen Händen ein Gemüsegarten entstanden war. Liz, stets auf Sparsamkeit bedacht, hatte die beiden gebeten, die Obstbäume entlang der Mauern zu stutzen, in der Hoffnung, bei entsprechender Pflege würden sie bald Früchte tragen. Als gute Schülerin ihrer haushälterischen Tante wollte sie im Herbst Marmelade für den Winter einkochen.
Nur selten kam Besuch ins Haus Cottingdean. Die Dorfbewohner blieben lieber unter sich, und Liz fürchtete, in der gesellschaftlichen Hackordnung weder Fisch noch Fleisch zu sein, deshalb unternahm sie von sich aus keinen Versuch, Freundschaften zu schließen. Der Besuch an einem Montagnachmittag, wo jede vernünftige Hausfrau ihre Montagswäsche erledigte, war erstaunlich genug. Aber wer sich da an der fast nie benutzten Vordertür präsentierte, bewog Liz zu einem Stirnrunzeln, während sie hastig ihre Hände an der Schürze abwischte und diese dann abnahm.
Der einzige bewohnbare Raum im Erdgeschoss war die Küche. Edward schien sich damit abgefunden zu haben, dass sie praktisch darin wohnten. Kommentarlos hatte er beobachtet, wie zwei alte Lehnstühle aufgestellt worden waren, von Liz und Vic vom Dachboden heruntergeschleppt, mit zerrissenen, feuchten Bezügen, aber noch intakten Sprungfedern. An den Frühlingsabenden hatte sie die geliehene Nähmaschine benutzt, um aus alten Damastvorhängen – ebenfalls auf dem Dachboden entdeckt – Bezüge anzufertigen.
Nun glänzte der blitzsaubere Fliesenboden, das Zinn schimmerte in den Regalen, der Herd verströmte gemütliche Wärme.
Während sie durch die Halle zur Vordertür eilte, schnitt sie eine Grimasse. Normalerweise hielt sie sich nur im hinteren Teil des Hauses auf. Seit Davids Geburt hatte sie keine Zeit gefunden, auch die vorderen Räume in Ordnung zu bringen.
Als nun das helle Sommersonnenlicht hereinschien, wurde ihr der beklagenswerte Zustand der Halle deutlich bewusst. Macht nichts, dachte sie grimmig und kämpfte mit dem massiven Riegel. Wenn der unerwartete Besuch zur Vordertür kam, musste er eben die Konsequenzen tragen. Sie öffnete die Tür, blinzelte in den Sonnenschein und starrte verwundert auf eine große, dünne Frau mit grauem Kraushaar und dunkel gebräuntem Gesicht. Liz schätzte sie auf Ende sechzig. Unsicher lächelte sie und bat die Fremde ins Haus.
„Harriet Fane“, stellte sich die alte Dame vor und umfasste Liz’ Finger mit festem Händedruck. „Von Fane Place.“ Sie trat ein und gönnte der schäbigen Halle kaum einen Blick. „Dort lebe ich mit meinem Bruder – das heißt, da habe ich mit ihm gelebt. Letzte Woche musste ich ihn begraben. War auch das Beste für ihn. In Dünkirchen wurde er praktisch in Stücke geschossen. Die hättenihn schon da umbringen sollen. Und deshalb bin ich jetzt hier. Ich hörte von Ihrem Mann. Dem bin ich zwar nie begegnet, aber ich kenne die Familie.“
Verwirrt hörte Liz zu. Ian hatte von Harriet Fane erzählt oder – um es richtiger auszudrücken – von Lady Harriet Fane und bei seinem letzten Besuch den Tod von Lord George Fane erwähnt. Fane Place, der Landsitz des exzentrischen Geschwisterpaars, war angeblich in noch miserablerem Zustand als Haus Cottingdean. Keiner von beiden hatte je geheiratet. Die Dorfbewohner behaupteten, Lady Harriet würde nur für ihre Pferde und ihren Garten leben, eine maskuline Frau, die kein Blatt vor den Mund nahm und zu unabsichtlicher Taktlosigkeit neigte. Die Vikarsgattin hatte Liz einmal erklärt, die Frau tue ihr
Weitere Kostenlose Bücher