Schattenjahre (German Edition)
und doch von einer Euphorie durchdrungen, die sie zwang, hartnäckig am Bewusstsein festzuhalten. Vic wollte sie nicht erschrecken, saß schweigend neben ihr und beobachtete sorgenvoll die gefährlichen Blutströme. Sie hatten nachgelassen, aber noch nicht aufgehört. Vermutlich würde Liz genäht werden müssen.
Von Rechts wegen sollte er nun den Doktor und Edward verständigen, der wahrscheinlich außer sich war vor Angst um seine Frau. Er wies Liz darauf hin, doch sie umklammerte seinen Arm. „Nein, bleiben Sie bei uns, bitte. Da ist so vieles …“ Verwirrt verstummte sie, schüttelte den Kopf über ihre Gedanken, ihre Bedürfnisse. Was wollte sie sagen, mit ihm teilen? Er war ihr noch fremder als Edward, und trotzdem hatten sie zu dritt etwas so Einzigartiges erlebt, dass sie für den Rest ihres Lebens unauflöslich miteinander verbunden sein würden. Plötzlich erschauerte sie. „Reden Sie mit mir, erzählen Sie mir, wie Sie sich Ihre Zukunft vorstellen, Vic …“
Bereitwillig erfüllte er ihren Wunsch, und dabei sah er erleichtert, wie die Blutung endlich verebbte, wie die Farbe in Liz’ Wangen zurückkehrte. Sie wird eine gute Mutter sein, dachte er anerkennend, als er bemerkte, wie instinktiv und mühelos sie mit ihrem Baby umging. Glücklicherweise war es gesund und kräftig, trotz der verfrühten Geburt, und saugte begierig an der Mutterbrust.
Wie eine Madonna, sagte er sich, während Liz lächelnd die Wange ihres Kindes berührte, und plötzlich stieg heftiger Neid in ihm auf. Auf einmal genügten ihm seine Hoffnungen und Pläne nicht. Er wollte mehr – wollte diese Frau. Rasch versuchte er, diesen Gedanken zu verdrängen, ehe er deutlichere Gestalt annahm. Doch es war zu spät. Und die Gewissheit, dass sie nie in seinem Bett liegen und seinen Sohn stillen würde, glich einer offenen Wunde in seinem Herzen.
„Sprechen Sie doch weiter“, bat Liz und schaute kurz zu ihm auf. „Sie möchten also einen neuen Schafbock haben?“
Edward war hingerissen von seinem Kind und billigte sogar den Namen, den Liz ausgesucht hatte. Aber sie fürchtete, er würde ihr nie verzeihen, dass sie David verfrüht geboren hatte, noch dazu an einem so schrecklichen Ort, nur von einem Schäfer betreut.
Mehrere Wochen nach der Niederkunft schlug er immer noch einen ziemlich kühlen Ton an, wenn er mit Vic redete. Das erregte Schuldgefühle in Liz, denn sie nahm an, der Zorn ihres Mannes würde eigentlich ihr gelten. Dass er instinktiv das Interesse eines anderen an seiner Frau spürte, ahnte sie jedoch nicht.
Ian Holmes lobte Vic, der sich als ein so tüchtiger Geburtshelfer erwiesen hatte. Die näheren Umstände des Ereignisses überging er, und dafür war Liz ihm dankbar. „Ein Glück, dass Vic in der Nähe war!“, meinte er. „Eine bessere Hebamme hätten Sie gar nicht finden können. Aber was Geburten betrifft, ist er ja auch viel erfahrener als ich …“
Dieser Kommentar missfiel Edward. Angewidert betonte er, Schafe seien doch wohl kaum mit Damen zu vergleichen.
„Wenn sie Mütter werden, schon“, erwiderte Ian ungerührt und erwähnte nicht, dass Liz ohne Vics entschlossenes Eingreifen womöglich noch mehr Blut verloren hätte.
Sie erholte sich erstaunlich schnell und strahlte vor Stolz und Freude. Auch das Baby gedieh prächtig.
Irgendjemand hatte irgendwo zwei Ziegen aufgespürt und spendete die Milch, die Liz nur David zuliebe trank. Ian hatte sie gewarnt, die Unterernährung, an der sie in der Nachkriegszeit allelitten, könne dem Baby schaden.
9. KAPITEL
Als David sechs Monate alt war, geschahen drei Dinge, die das Leben der Familie Danvers nachhaltig beeinflussten, wenn auch in verschiedenem Ausmaß.
Zunächst erschien an einem warmen Juninachmittag um Punkt vier Uhr ein völlig unerwarteter Besuch. Edward und David hielten gerade ein Schläfchen, was beiden zur lieben Gewohnheit geworden war. Wäre Liz veranlasst worden, die schönen Dinge ihres Lebens aufzuzählen, hätte sie an erster Stelle Edwards Liebe zu ihrem Sohn genannt. Es überraschte sie, wie leicht es ihrem Mann fiel, den Kleinen als „sein“ Kind zu betrachten. Vom ersten Augenblick hatte er das Baby vergöttert und behandelte es sehr zärtlich. Ihre letzten Zweifel, ob es richtig gewesen war, ihn zu heiraten, schwanden angesichts dieser innigen Vaterliebe. Sie wusste, dass dieses Gefühl niemals enden würde. Und wenn es ihr manchmal immer noch wehtat, an den fröhlichen, hübschen Mann zu denken, der dem kleinen Jungen
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