Schattenkinder
dich in der Küche nicht mehr sehen«, sagte er. »Du versteckst dich, das ist ein Befehl.«
Ohne sich umzudrehen ging er hinaus.
Luke flüchtete die Treppe hinauf. Er hätte gern mit dem Fuß aufgestampft, aber das ging nicht. Lärm war nicht erlaubt. In seinem Zimmer blieb er stehen, er war zu aufgewühlt zum Lesen, zu rastlos für irgendwas anderes.
Die Worte Du versteckst dich, das ist ein Befehl klangen in seinen Ohren. Aber er hatte sich doch versteckt.
Er war doch vorsichtig gewesen. Wie zum Beweis - zumindest für sich selbst - kletterte er auf seinen Ausguck vor dem hinteren Ventilator und sah hinaus auf die stille Nachbarschaft.
Alle Einfahrten waren leer. Nichts bewegte sich, nicht einmal die Fahne an der Fahnenstange der Gold-Familie oder die Flügel der Windmühlennachbildung der Spatzenhirn-Familie. Doch da bemerkte Luke hinter einem der Fenster der Sport-Familie etwas aus den Augenwinkeln.
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Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
Ein Gesicht. Ein Kindergesicht. In einem Haus, in dem es bereits zwei Jungen gab.
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Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
Kapitel 9
Luke war so überrascht, dass er das Gleichgewicht verlor und um ein Haar rückwärts von der Truhe gefallen wäre. Bis er sich wieder aufgerappelt hatte, war das Gesicht verschwunden. Ob er es sich nur eingebildet hatte? War es vielleicht nur einer der Brüder, der früher aus der Schule zurückgekommen war? Kinder wurden krank, wie sein Vater gesagt hatte, oder sie taten einfach so, als wären sie es. Luke versuchte sich genau an das Gesicht zu erinnern, das er gesehen oder zumindest zu sehen geglaubt hatte. Es hatte jünger gewirkt als die beiden Brüder. Weicher. Oder?
Vielleicht war es ein Dieb. Oder ein Hausmädchen, das früher gekommen war.
Nein. Es war ein Kind. Ein...
Er wollte nicht einmal darüber nachdenken, was ein weiteres Kind in diesem Haus bedeuten würde.
Stundenlang starrte er zum Haus der Sport-Familie hinüber, aber das Gesicht tauchte nicht wieder auf. Bis sechs Uhr abends rührte sich nichts, dann kamen die beiden Jungen mit ihrem Jeep angefahren, luden ihre Football-Ausrüstung aus und trugen sie ins Haus. Keiner von ihnen kam aus dem Haus gerannt und schrie etwas von einem Einbruch.
Und er hatte weder einen Dieb noch ein Hausmädchen fortgehen sehen.
Um halb sieben kletterte Luke gerade widerstrebend von seinem Ausguck herunter, als er die Mutter anklopfen hörte. Er setzte sich aufs Bett und murmelte geistesabwesend: »Herein.«
Sie eilte zu ihm und nahm ihn in die Arme.
»Es tut mir ja so leid - Luke. Ich weiß, du wolltest nur helfen. Und alles ist so wunderbar sauber. Es war so schön, wenn du das jeden Tag machen könntest. Aber dein Vater meint... ich meine, du kannst doch nicht...«
Luke war mit seinen Gedanken so sehr bei dem Gesicht im Fenster, dass er zunächst gar nicht begriff, wovon sie redete. Ach so. Das Brot. Der Hausputz. Das Radio.
»Ist schon gut«, murmelte er.
Aber das war es nicht und würde es auch nie sein. Sein Zorn kehrte zurück. Warum mussten seine Eltern so vorsichtig sein? Warum sperrten sie ihn nicht gleich in eine der Truhen auf dem Dachboden und ließen es gut sein?
»Kannst du nicht mit ihm reden?«, bat Luke. »Kannst du ihm nicht klarmachen...«
Die Mutter strich ihm die Haare aus dem Gesicht. »Ich werde es versuchen«, sagte sie. »Aber du weißt, dass er dich nur beschützen will. Wir dürfen kein Risiko eingehen.«
Selbst wenn das Gesicht im Fenster der Sport-Familie ein anderes drittes Kind sein sollte, was hieß das schon? Luke und die Person von gegenüber konnten ihr Leben lang Tür an Tür wohnen und sich doch nie begegnen.
Vielleicht sah er den anderen dort nie wieder. Und umgekehrt würde der Luke sicherlich nie zu Gesicht bekommen.
Er ließ den Kopf hängen.
»Was soll ich denn machen?«, fragte er. »Es gibt nichts für mich zu tun. Soll ich denn mein ganzes Leben lang in diesem Zimmer herumsitzen?«
Die Mutter strich ihm jetzt über die Haare. Es machte ihn unruhig und gereizt.
»Ach, Lukie«, erwiderte sie. »Es gibt doch so vieles, was du tun kannst. Lesen und spielen und schlafen, wann immer du Lust hast... Glaub mir, ich würde im Moment gerne meine Tage so verbringen wie du.«
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Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
»Nein, das würdest du nicht«, flüsterte Luke, aber er sagte es so leise, dass sie ihn mit Sicherheit nicht hören konnte. Er wusste, Mutter würde ihn nicht verstehen.
Angenommen,
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