Schattenkinder
hervorbrachte.
Und wenn er sich nun in das Haus der Sport-Familie einschlich und das andere dritte Kind traf?
Er konnte es tun. Es war möglich. Theoretisch.
Er verbrachte ganze Tage damit, seine Route zu planen. Im eigenen Garten würde er sich die meiste Zeit im Schutz von Gebüsch und Scheune befinden. Von dort aus waren es höchstens noch zwei Meter bis zum ersten Baum im Garten der Sport-Familie. Er konnte auf dem Bauch kriechen. Und dann würde ihn der gemeinsame Zaun der Sport-Familie und der Spatzenhirn-Familie verdecken - die vielen Vogelhäuschen konnten vielleicht nützlich für ihn sein. Danach waren es nur noch drei Schritte bis zum Haus. Hinten gab es eine gläserne Schiebetür, die an warmen Tagen offen stand, nur das Fliegengitter war geschlossen. Dort konnte er in das Haus hinein.
Ob er es wagen sollte?
Natürlich nicht, aber trotzdem, trotzdem...
Als er aus der Ventilatoröffnung sah und zum ersten Mal bemerkte, dass sich die Ahornblätter rot und gelb verfärbten, ergriff ihn die Panik. Er brauchte die Blätter, damit sie ihn auf dem Weg zum Nachbarhaus verdeckten. Wenn er zu lange wartete, würden die Blätter verschwunden sein.
Er erwachte nun jeden Morgen in kaltem Schweiß und dachte: Vielleicht heute. Soll ich oder soll ich nicht?
Schon der Gedanke daran verursachte ihm ein flaues Gefühl im Magen.
Anfang Oktober regnete es drei Tage lang ununterbrochen und er war regelrecht erleichtert, weil das bedeutete, dass er an diesen Tagen nicht losgehen konnte, ja nicht einmal darüber nachdenken musste. Er konnte es nicht riskieren, Fußspuren im Matsch zu hinterlassen. Außerdem störten der Vater, Matthew und Mark, die sich im Haus und in der Scheune aufhielten und sich darüber ärgerten, dass sie nicht aufs Feld hinauskonnten.
Schließlich hörte der Regen auf, die Felder trockneten und der Vater und die Brüder kehrten zu ihrem Mähdrescher und den Traktoren zurück, meilenweit vom Hause entfernt. Auch die Gärten waren wieder trocken.
Und es war wieder warm. Die Sport-Familie ließ ihre Schiebetür wieder offen stehen.
– 27 –
Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
Der Regen hatte die Blätter noch nicht ganz von den Bäumen gefegt. Aber der nächste Schauer würde das bestimmt tun.
Am dritten Morgen nach dem Regen schlug Lukes Magen Purzelbäume, während er auf seinem Ausguck hockte und zusah, wie sich die Häuser in der Nachbarschaft leerten. Er wusste ohne Wenn und Aber, dass er es heute tun musste, wenn er es jemals wirklich tun wollte. Er konnte nicht bis zum Frühjahr warten. Das würde er nicht aushaken.
Er sah zu, wie achtundzwanzig Menschen in acht Autos und einem Schulbus davonfuhren. Mit zitternden Fingern malte er Striche an die Wand und zählte einmal, zweimal, dreimal nach. Achtundzwanzig. Ja, achtundzwanzig. Jawohl, achtundzwanzig. Die magische Zahl.
Er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Er bewegte sich wie im Traum. Vom Hocker herunter. Die Treppe hinab. In die Küche. Und dann - zur Hintertür hinaus.
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Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
Kapitel 13
Er hatte ganz vergessen, wie gut sich frische Luft anfühlte, wenn sie durch Nase und Lunge strömte. Es war wunderbar. Mit dem Rücken an die Hauswand gelehnt stand er einen Augenblick lang einfach da und atmete.
Die vielen Monate, die er im Haus verbracht hatte, erschienen ihm plötzlich wie ein Traum. Er hatte sich gefühlt wie ein verwirrtes Tier, das bei schönem Wetter Winterschlaf hielt. Das Letzte, was sich wirklich ereignet hatte, war der Ruf, sofort ins Haus zu kommen, als sie den Wald abholzten. Das wahre Leben war draußen.
Aber auch die Gefahr. Und je länger er draußen blieb, desto größer wurde die Gefahr.
Er zwang sich in eine gebückte Haltung und halb kriechend, halb rennend eilte er am Haus, den Hecken und der Scheune entlang. Am hinteren Ende der Scheune blieb er stehen und starrte auf die scheinbar endlose Kluft zwischen der Scheune und den Bäumen an der Grenze zwischen seinem Garten und dem der Sport-Familie.
Alle sind fort, sagte er zu sich. Keine Menschenseele kann dich sehen.
Trotzdem wartete er, stierte hinab auf die Grashalme unter seinen Füßen. Sein ganzes Leben lang hatte man ihm beigebracht offenes Gelände zu fürchten. Dutzende Fenster waren ihm zugewandt. Er hatte noch nie einen Fuß auf einen derart offenen Platz gesetzt, selbst wenn weit und breit niemand war.
Noch immer im Schutz der Scheune zwang er sich einen Fuß vorzusetzen. Dann zog
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