Schattenkrieg
vorüber – hatte ihrdie Situation nur zu deutlich vor Augen geführt. Sie hatte viel Energie darin investiert, das Fest vorzubereiten, mehr als die anderen Offiziere zusammen. Im Grunde war es
ihr
Weihnachtsfest gewesen. Sie hatte den großen Weihnachtsbaum organisiert, sie hatte den christlichen Teil Gnjilanes nach Liederbüchern und Christbaumschmuck abgeklappert, sie hatte den für den späten Abend obligatorischen Alkohol eingekauft. Es hatte Veronika riesig gefreut, die Rührung in den Gesichtern der Soldaten zu sehen – manche hatten mit glasigen Augen vor dem Baum gestanden, und einem oder zweien waren sogar Tränen über die Wangen gelaufen. Doch dann war der Moment gekommen, an dem Hauptmann Hagen den Offizieren angeordnet hatte, sich zurückzuziehen und die Männer unter sich zu lassen. Den Rest des Abends hatte Veronika in der Offiziersmesse damit verbracht, den anderen beim Skat zuzusehen und eher lustlos im »Keiler« herumzulesen. Die Lügen, die das Bundeswehrblatt verbreitete, hatten sie beinahe genauso genervt wie das großspurige Gehabe der Offiziere beim Kartenspielen. Während die anderen Weihnachten gefeiert hatten, war sie früh zu Bett gegangen.
Seitdem hatte sich die Situation kaum verändert. Der Januar war stürmisch, kalt und ungemütlich gewesen, mit so viel Schneefall, dass manche Straßen oft tagelang blockiert gewesen waren. Sie hatte Fatima in dieser Zeit genau einmal getroffen, den Rest der Zeit langweilte sie sich zu Tode. Der Kosovo war für sie wie eine Verbannung.
Wenn sie abends im kalten Feldbett lag, dachte sie oft an die schöne Zeit in Somalia: offene Jeeps, laute Sechziger-Musik, die tiefhängende Abendsonne, deren Hitze langsam erträglich wurde, die Männer des Sanitätskorps mit nackten Oberkörpern, die Frauen in olivgrünen ärmellosen Shirts, keine Helme, keine Kevlarwesten, keine Gewehre, keine Magazintaschen … stundenlang im Meer baden, Beachvolleyball bis es so dunkel war, dass man den Ball nicht mehr erkennen konnte, Hot-Dogs direkt vom Grill … und Thomas! Sein verschmitztes Lächeln, solange er denweißen Kittel trug, das zu einem breiten unverschämten Grinsen wurde, sobald er das Lazarett verließ … Thomas beim Volleyballspiel mit Tarnfleckhose, darüber der vom vielen Training harte Waschbrettbauch, die Schultern, unter denen man beim Aufschlag das Spiel jedes einzelnen Muskels beobachten konnte … Thomas mit dem Strohhut auf dem Kopf und einer Zigarette im Mund, der auf der Gitarre klimperte … Thomas nackt, wenn sie sich heimlich den Strand hinuntergeschlichen hatten … und dann der Urlaub, zurück nach Deutschland, die vielen Partys … ihr erster Besuch in Hamburgs Unterwelt … die wilde Musik, der viele Alkohol, die Drogen … Thomas, wie er mit halbnackten Mädchen tanzte, zugedröhnt von Crack und Marihuana … schließlich Thomas, der von ihr forderte, bei alledem mitzumachen, die heftigen Diskussionen … und schließlich Thomas, der mit ihr Schluss machte, weil sie zu
bieder
war, zu
bieder
, weil sie sich weigerte, die Drogen zu nehmen, die er nahm (»… die
alle
nehmen, Veronika, sei doch nicht so
bieder
!«), zu
bieder
, weil sie ihm nicht die Freiheiten ließ, die er mit anderen Frauen haben wollte, wenn sie nicht da war, zu
bieder
,
bieder
,
bieder
,
bieder
…
Die idyllische Seifenblase war mit den letzten Gedanken zerplatzt, und die Ereignisse, die danach kamen, drangen auf sie ein: der unmenschlich heiße Sommer 1993, der die Hungersnot im Land so drastisch verschärft hatte, die Berichte über die vierundzwanzig gefallenen Pakistanis im Juni, und dann der Herbst … Schweiß brach aus ihren Poren, als sie an den Herbst dachte … Oktober 1993, als die Amis eine besonders brisante Aktion in Mogadischu planten, die Mission, die so unglaublich scheitern sollte … Zwei abgeschossene Blackhawk-Hubschrauber in der Stadt, ein Aufruhr wie noch nie zuvor in Somalia erlebt, und irgendwo dazwischen ein kleines deutsches Lazarett, das aufgebaut worden war, um eventuell verletzte somalische Zivilisten zu behandeln … Hübner, der in den Aufenthaltsraum stürmte und hysterisch herumschrie: »Wir müssen hier weg! Wir müssen hier weg! Sie sind überall!« Dann die Straßen, der Lärm der Gewehre,das Dröhnen der vielen Helikopter in der Luft … Männer, die starben, auch deutsche Soldaten
(deutsche Soldaten im Auslandseinsatz!)
, und plötzlich niemand mehr da, der Befehle geben konnte, geben
wollte
, der einsetzende Kampfsinn, die
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