Schattenkrieg
geschmacklosen breiten Gürtel und einen Kapuzenpulli. Man konnte sie ohne Probleme für einen Jungen halten mit den unauffälligen Wimpern, dem vom Untergewicht eingefallenen Gesicht und dem kahl geschorenen Schädel. Ihr Gesicht war am deutlichsten von allen vom Stress gezeichnet und arg verschwitzt. Die Kiefer waren aufeinandergepresst, ihr Blick huschte unruhig im Zimmer umher, während ihre Hände eine Zigarettenkippe umklammerten. Sie war noch blasser als sonst. Ihre bisher einzige Kraft war die Schmerzkontrolle, doch im Moment schien der Schmerz eher sie zu kontrollieren als umgekehrt. Die Urquhart hatte Schmerzen in sich gespeichert, die sie im Notfall auf einen Gegner ablassen konnte; bis dahin musste sie sie selbst erdulden. Sie sah aus wie ein Junkie auf Entzug.
Derrien wusste, dass sie den Renegaten das größte Rätsel sein würde, und das war seine Absicht. Sie würde sie ablenken, und ein abgelenkter Renegat machte Fehler. Falls sie heute Nacht in einen Hinterhalt tappten, waren Fehler genau das, was ihnen allen das Leben retten konnte. Deshalb trug Keelin auch so auffällig andereKlamotten, deshalb trug sie auch einen Namen, der nicht eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen war …
Er ging mit ihnen noch einmal die wichtigsten Codewörter durch. In der Unterwelt gab es haufenweise Spione, vielleicht auch gebundene Phantome oder andere Überwachungsmöglichkeiten, die auf bestimmte Phrasen reagierten und den Schatten so ihre Anwesenheit verraten konnten. Codewörter würde ihnen helfen, unerkannt zu bleiben.
In der Zwischenzeit hatte Leiff die Kiste hereingebracht. Nachdem er sich eine frische Zigarette in den Mund gesteckt hatte, öffnete er den Deckel und legte Pistolen und Magazine auf den Tisch. Derrien griff nach seinem Wasserglas, während sein Spion erklärte: »Dies sind russische Makarovs. Ist ein altes Modell mit acht Schuss pro Magazin, Kaliber 9 mal 18. Für die kurzen Entfernungen, auf die wir sie heute Abend
definitiv nicht
verwenden werden, ist sie ausreichend genau. Falls der Typ, auf den ihr schießen wollt, eine kugelsichere Weste trägt, dann zielt auf den Kopf, die Makarov packt das nämlich sonst nicht. Habt ihr beiden«, damit meinte er die jungen Druiden, »schon einmal mit so einem Ding geschossen?«
Derrien antwortete stattdessen: »Ich habe sie auf dem alten Schießstand gehabt.«
Nicht, dass ich damit rechne, dass sie damit auch
treffen
…
Aber mehr war in der kurzen Zeit nicht drin gewesen. Er wandte sich an alle. »Damit das noch einmal klar ist: Dies ist der absolute
Notfall
. Wir wollen
nicht
auffallen. Selbst wenn uns die Renegaten angreifen sollten, ist es besser, uns ohne großes Aufsehen zu verdrücken. Erst wenn die
Schatten
Wind von unserer Anwesenheit bekommen haben, könnt ihr sie benutzen. Ist das klar?«
Seine Leute nickten. Während sie die Waffen in ihrer Kleidung verschwinden ließen, lehnte sich Derrien gegen die Tür. Falls es tatsächlich so weit kam, die Pistolen benutzen zu müssen, steckten sie so tief in der Tinte, dass vermutlich keiner seiner drei Spione lebend davonkommen würde – und wahrscheinlich auch nicht alle der Druiden. Er selbst war nicht der Einzige, der gegen Schusswaffenimmun war, die Kraft war auch unter Schatten verbreitet – ziemlich weit verbreitet sogar. Derrien hatte die Vermutung, dass es ein spezifisches Merkmal eines der Bergener Schwärme war.
Schattenschwärme
… Derrien schüttelte den Kopf. Das war hochgradige Spekulation – die Einzigen, die wirklich über Schwärme Bescheid wussten, waren die Schatten selbst und vielleicht ein paar Ratten. Ohne die sich in unregelmäßigen Abständen ereignenden Kriege zwischen den Schwärmen hätten die Stämme vermutlich noch nicht einmal mitgekriegt, dass es so etwas wie Schwärme überhaupt gab. Wer wusste schon, wie sie strukturiert waren, wie sie zusammenhingen, was einen Schwarm ausmachte …
Im Grunde war das das allergrößte Problem. Man wusste zu wenig über die Schatten. Tausend Jahre lang hatte es niemanden interessiert. Mit Ausnahme von Loch Ness waren sie eine lokale Erscheinung gewesen, kaum mehr als ein Zwischenspiel zwischen all den kleineren Überfällen und Kriegszügen zwischen Kelten und Germanen. Schatten wurden bekämpft, wenn sie auftraten, doch für ihre Hintergründe hatte sich niemand interessiert. Doch seitdem sie nach dem Letzten Germanenkrieg außer Kontrolle geraten waren, war es beinahe unmöglich geworden, mehr über sie herauszufinden – die
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