Schattenlord 1 - Gestrandet in der Anderswelt
leises Schnarchen, Seufzen, unruhige Bewegungen. Die Lagerwache schlich müde an ihm vorüber, ohne ihn zu bemerken. Der Vorteil dieses Landes war, dass es Schatten besaß, in denen man sich gut verbergen konnte.
Der Erste warf einen Blick zu den anderen beiden Wachen, die auf die Vorräte aufpassen sollten. Der eine war bereits eingeschlafen, die andere nicht mehr weit davon entfernt. Und nun … wo war diese junge Frau, diese Laura?
Sie lag auf der Seite, leicht zusammengerollt. Sie schlief tief und fest. Endlich. Was sie in den letzten Nächten umgetrieben hatte, war von ihr gewichen. Dafür hatte etwas anderes sie fest im Griff. Sie würde heute Nacht nicht stören.
Der Erste konzentrierte sich und schickte den Ruf hinaus. Nur einmal, nur sehr kurz. Er musste darauf hoffen, dass er gehört wurde, aber mehr durfte er nicht riskieren. Das Katz-und-Maus-Spiel war eröffnet.
Dann wartete er, bis die Wache auf dem Rückweg war, und schlich hinter ihr aus dem Lager, schlüpfte in den nächsten Schatten und bewegte sich an der Düne entlang, umrundete sie. Hinter der zweiten Düne verharrte er und sah sich um. Niemand in der Nähe.
Er bewegte die Hände in bestimmten Gesten und murmelte magische Worte. Die Luft um ihn herum begann zu glitzern. Dann verschwamm die Umgebung, um gleich darauf wieder scharf zu werden. Es sah alles unverändert aus, dennoch war dies nicht mehr derselbe Ort, sondern direkt daneben. Wer diese Düne aufsuchen würde, würde nicht sehen können, was sich in Wirklichkeit an diesem Ort, gleich nebenan, abspielte.
Der Bann würde etwa eine Stunde halten; das musste genügen. Länger wollte der Erste Sucher es nicht wagen; außerdem kostete es ihn womöglich zu viel Kraft.
Die Grenze rund um den verschobenen Platz zeigte sich in einem sanft funkelnden Flimmern. Sollte ein Mensch zufällig hier hindurchgehen, würde er einen leichten Schauder empfinden und schleunigst den Bereich verlassen, ohne zu wissen, dass er unter Umständen gerade durch den Ersten hindurchging. Der Erste selbst hingegen würde nichts spüren, aber den Menschen durch sich hindurchtreten sehen können.
Das war etwas, das ihm immer Vergnügen bereitet hatte. Das vor langer Zeit verfügte Gesetz, dass die Anderswelt und die Menschenwelt voneinander getrennt sein sollten, hatte ihn nie sonderlich gekümmert. Sooft er das Bedürfnis hatte, wandelte er unter den Menschen, ohne dass sie je seine wahre Identität erkannten, spielte mit ihnen, vergnügte sich mit ihnen. Das gab ihm viel mehr als das ausschweifende Leben in seiner Heimat, wo er nur unter Gleichgesinnten war und man sich gegenseitig mit Langeweile ansteckte, wenn man nicht gerade Krieg führte.
Gewiss, er war manchmal boshaft zu den Menschen, aber dem Gesetz entsprechend fügte er ihnen keinen bleibenden Schaden zu, weil er andernfalls vor Gericht gestellt worden wäre und die Menschenwelt für ihn tabu geworden wäre.
Vielleicht hatte der Auftraggeber ihn deshalb ausgewählt, weil er sich in der Menschenwelt gut auskannte und nie entdeckt worden war. Er war gut im Durchschauen und Manipulieren, und er war eine geborene Führungspersönlichkeit. Mit seiner ruhigen, sonoren - echten - Stimme weckte er auch Vertrauen bei den Angehörigen seines eigenen Volkes.
Die Grenzlinie stand, alles war vorbereitet. Der Erste Sucher hob den Fuß und griff nach dem angehefteten Schatten, den er als Elf in der Menschenwelt immer tragen musste, um sich nicht zu verraten. Behutsam löste er den Schatten aus den speziellen Schlaufen, schüttelte ihn aus und legte ihn sich dann wie einen langen dunklen Umhang über die Schultern und verschloss ihn sorgfältig.
Die Maske trug er ebenfalls bei sich, in einem kleinen Beutel in seiner Hemdtasche. Er schüttete den Inhalt auf seine Handfläche: feinster Glasstaub, den er sanft anpustete. Der Staub wirbelte auf, begann um sich selbst zu kreisen und zu verfestigen, und kurz darauf hielt der Erste Sucher eine gläserne Maske in der Hand, die keine Konturen aufwies, nur Augen und einen Mundschlitz besaß. Obwohl aus durchsichtigem Glas, war sein Gesicht dahinter nicht kenntlich, als wäre es nur eine weiße Fläche.
Er setzte die Maske auf und schlug die Kapuze über. Dann wartete er.
Schon kurz darauf flackerte der Flimmervorhang das erste Mal, als ein weiterer Sucher hindurchtrat. Auch er trug einen Schattenumhang, und seine Maske war aus glitzerndem Kristall, das Gesicht geformt wie das des Pierrot, mit Glitzerträne.
Der Zweite
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