Schattenmacht
Sinn. Plötzlich fiel ihm etwas wieder ein. »Ich habe dich schon mal gesehen«, sagte er. »Aber das war nur in einem Traum.«
Er hatte erwartet, dass Scar ihn auslachen würde, aber sie nickte ernst. »Die meisten Leute glauben, dass Träume keine Bedeutung haben«, sagte sie. »Dass sie nur Dinge sind, die einem passieren, wenn man schläft. Aber wir benutzen sie ständig. Es gibt eine Traumwelt, die wir manchmal besuchen, und so haben wir herausgefunden, wer wir sind. So haben wir auch zueinander gefunden.«
»Du solltest am Anfang beginnen!«, rief Finn. Er hatte aufgegessen und warf den Knochen ins Feuer. »Du kannst einfach keine Geschichte erzählen.«
»Für mich gab es aber keinen Anfang«, konterte Scar. »Oder wenn es einen gab, kann ich mich nicht daran erinnern. Matt ist der Einzige, der die ganze Wahrheit kennt, aber er verrät sie uns ja nicht.«
»Fang mit den Fünf an!«, beharrte Finn.
»Meinetwegen«, seufzte Scar. »Aber unterbrich mich nicht dauernd. Damit machst du alles nur noch komplizierter.«
»Kinder, die Erwachsene herumkommandieren!« Finn schüttelte den Kopf. »Also, für mich ist das das Ende der Welt!«
Scar sah wieder Jamie an. »Mich gibt es erst seit ungefähr fünfzehn Jahren«, sagte sie. »Aber dieser Krieg dauert schon mehr als fünfzig. Deswegen habe ich gesagt, dass es für mich keinen Anfang gibt. Ich war nicht einmal in diesem Land. Ich war weit weg, auf der anderen Seite der Erde, und als ich ungefähr neun war, wurde das Dorf, in dem ich lebte, niedergebrannt. Alle Erwachsenen wurden getötet und wir Kinder in die Bergwerke geschickt.«
»Warte mal.« Jamie begriff gar nichts mehr. »Diese Welt, in der du lebst… ist das meine Welt? Welches Jahr haben wir? Ich weiß doch nicht einmal, wo ich bin!«
»Und ich weiß nicht, woher du kommst, also kann ich dir nicht helfen. Du wirst einfach zuhören müssen. Und wenn du mich ständig unterbrichst, werden wir nie fertig.«
Jamie seufzte. »Erzähl weiter.«
»Wir mussten nach Edelsteinen graben. Es waren Tausende von uns… und wir haben tief unter der Erde gearbeitet. Sie haben Kinder benutzt, um auch in die kleineren Tunnels zu gelangen. Es war grauenvoll. Oft sind die Tunnel eingestürzt, und wir haben uns ständig gefragt, wann wir lebendig begraben werden würden.«
»Wer hat euch dazu gezwungen? Für wen habt ihr gearbeitet?«
»Für die herrschende Klasse – und hinter denen standen natürlich die Alten.«
»Wer ist das?« Jamie erinnerte sich, dass der alte Mann ihn gefragt hatte, ob er den Alten diente, bevor er sich in einen Skorpion verwandelt hatte.
»Sie sind der Feind«, antwortete Scar. »Matt sagt, dass sie das erste und größte Übel sind und dass sie an dem Tag geboren wurden, als die Welt entstand. Sie wollen uns vernichten. Das ist der einzige Grund für ihre Existenz. Aber sie wollen es langsam tun, einen Schritt nach dem anderen. Du musst wissen, dass sie vom Leiden der Menschen zehren. Am Ende werden sie uns alle umbringen, aber sie nehmen sich dafür so viel Zeit, wie es nur geht.«
»Woher kommen sie?«, fragte Jamie.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Scar. »Das musst du Matt fragen.«
Erin war an seinen Bruder gelehnt eingeschlafen. Das lange blonde Haar fiel ihm übers Gesicht, und seine Metallhand lag mit den Fingern nach oben vor ihm ausgestreckt. Corian saß ganz still, um ihn nicht zu wecken, und hörte Scars Geschichte zu.
»Ich glaube, dass es ungefähr ein Jahr her ist«, fuhr sie fort. »Genau weiß ich es nicht, weil Zeit keine Bedeutung mehr für uns hat. Wenn man ein Sklave ist, der geschlagen wird und in der Dunkelheit schuften muss, ist ein Tag wie der andere. Auf jeden Fall habe ich vor etwa einem Jahr herausgefunden, dass ich anders bin. Ich erfuhr, dass ich eine der Fünf bin.«
»Hat Matt dir das gesagt?«
Scar nickte. »Ja. Er ist mir im Traum erschienen. Oder ich ihm
– das ist schwierig zu erklären. Aber du hast gesagt, du hättest diese Träume auch gehabt. Du musst also wissen, wovon ich rede.«
»Ich glaube schon.« Jamie dachte zurück an seine Träume. »Da ist ein Meer mit schwarzem Wasser. Und obwohl Sterne am Himmel stehen, ist es eigentlich nicht Nacht…«
»Da ist eine Insel…«
»Ja.« Jamie war ganz aufgeregt. Sie wusste, wovon er sprach. »Und zwei Jungen in einem Boot aus Binsen.«
»Matt und Inti.« Sie sah ihn neugierig an. »Warst du auch in der Bücherei?«
Die Frage kam so unerwartet, dass Jamie sie verdutzt ansah. »Welche
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