Schattenmelodie
Künstler wie ich würde sich niemals für eine Wissenschaftlerin wie sie interessieren“, berichtete er weiter. „Das hat sie gedacht! Kannst du das glauben? Sie sieht mich als Künstler, meine Güte – Dabei bin ich doch nur …“
„Ein Künstler, jawohl. Das bist du. Und Charlie hat wirklich Glück mit dir.“
„Nein, ich mit ihr. Sie ist so …“
„Schön“, beendete ich den Satz. Aber Tom verdrehte verwundert die Augen.
„Schön? Ja, das auch … Aber das meine ich doch nicht. Sie ist so lebendig. So wunderbar lebendig! Sie ist für mich wie ein Lebensquell!“
Bei diesen Worten dachte ich sofort an Kira und wie sie mir angeraten hatte, mir die Lebendigkeit von Charlie abzuschauen, wenn ich Tom beeindrucken wollte. Das war wie auf eine bittere Mandel zu beißen.
„Willst du nicht doch einen Kakao? Dieses Kakaopulver ist so was von lecker!“
Ich schüttelte vehement den Kopf und antwortete barsch, als hätte er mir Drogen angeboten: „Nein, auf keinen Fall!“
Verwundert hob er den Kopf und ich lächelte ihn entschuldigend an. „Sorry, ich habe zu Weihnachten wohl zu viele Süßigkeiten gegessen und habe ein wenig Probleme mit dem Magen.“
„Jetzt sag schon endlich, wo warst du?“
„Es tut mir leid, dass ich nicht gekommen bin. Wirklich. Aber du weißt ja, Grete ist verschwunden.“
Toms Gesicht wurde ernst. „Oh Mann, ich bin ein schlechter Freund. Ich schwärme hier von meinem Liebesglück herum, dabei ging es Viktor den ganzen Abend ziemlich dreckig. Wir mussten ihn am Schluss fast nach Hause tragen, so betrunken war er. Das mit seiner Erfolglosigkeit beim Schreiben ist schon schlimm, dabei schreibt er echt spannende Thriller. Ich kapier überhaupt nicht, warum dass keiner druckt!
Aber dann die Sache mit Grete – er fühlt sich furchtbar schuldig. Er denkt, dass er der absolute Versager ist, auf jeder Ebene. Aber besonders als Vater.“
Ich erzählte Tom, dass Grete mit jemandem, den sie kannte, nach La Gomera geflogen wäre, einem Typen, der ein paar Jahre älter war. Er arbeitete dort in einer Kneipe und Grete würde ein paar Wochen aushelfen.
„Ich habe Heilig Abend auf dem Flughafen verbracht. Ich habe versucht, Grete abzuhalten, bis der Flug ging“, sagte ich.
„Aber warum hast du nicht angerufen? Du hättest ihre Eltern anrufen müssen!“
„Dann hätte ich Gretes Vertrauen missbraucht.“
„Gretes Vertrauen? Aber sie ist erst sechzehn!“
„Ja, ich weiß. Aber jetzt sind ja erst mal Ferien und sie wird schon wiederkommen. Du weißt, wie es um Emma und Viktor bestellt ist. Du weißt es.“
Tom nickte. „Ist mir ja klar, und vielleicht hast du recht. Komm, lass uns zu Charlie reingehen. Bestimmt ist sie jetzt wach.“
„Nein, ich möchte euch nicht lange stören. Ich wollte nur kurz vorbeischauen. Grüß sie von mir und richte ihr aus, sie kann mich am besten morgen Mittag besuchen. Sie wollte noch etwas besprechen wegen ihrer Forschungsarbeit.“
„Gut, das werde ich ihr sagen. Aber bevor du gehst, ich habe noch eine Neuigkeit – Ja, dieses Weihnachten ist voller Geschenke, ich kann es selbst kaum glauben!“ Tom führte einen kleinen Tanz auf und mich beschlich ein wehmütiges Gefühl. Liebe war oft schrecklich, aber wenn sie glücklich war – Okay, da musste ich zugeben, nichts auf der Welt konnte das toppen.
„Stell dir vor, ich habe das Lied fertig komponiert!“
„Hast du? Das ist ja großartig!“
„In den frühen Morgenstunden am 25. Dezember, während Charlie schlief. Auf einmal floss es nur so aus mir heraus. Auf einmal war es klar. Das habe ich Charlie zu verdanken!“
„Charlie …“, rutschte es mir heraus.
„Und dir natürlich“, schob Tom schnell mit schlechtem Gewissen hinterher. „Dir vor allem. Ohne dich …“
„Schon gut!“ Ich machte eine abwehrende Geste. „Das ist wundervoll. Ich wusste, dass du es schaffst! Ich kann es kaum erwarten, das Stück zu hören.“
„Schattenmelodie. Das Stück heißt Schattenmelodie.“
„Wie schön, der Titel gefällt mir.“
Wir lächelten uns an.
„Meine Muse!“, sagte er versonnen und strich mir auf einmal mit seinem Zeigefinger über die Wange. Ich sog dabei seinen Duft ein. Er roch gut. Aber Janus – stellte ich ärgerlich fest – er duftete noch viel besser.
Kapitel 38
Die nächsten Stunden verbrachte ich erst eine Weile auf dem Dachboden und dann auf dem Dach, dick in Schal, Mantel und Handschuhe gehüllt und sehnte mich danach, mich wieder frei durch
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