Schattenreiter
einigen Stellen waren sie fast gänzlich zugewachsen. Gräser und Farne überwucherten das Eisen.
»Du bist wirklich anders als die meisten«, flüsterte er. Ich wandte den Kopf und lächelte ihn an. »Findest du?«
»Ja, du bist nicht todernst wie die anderen, lässt mir Freiraum, bombardierst mich nicht mit irgendwelchen Fragen, über die ich nicht einmal nachdenken möchte.«
Ich lachte. »Das heißt aber nicht, dass ich sie nicht hätte. Ich halte mich nur aus Höflichkeit zurück.«
»Das ist sehr angenehm. Als ich nach Calmwood kam, hatte ich fast das Gefühl, vor Gericht zu stehen, so viele Fragen hat man mir gestellt.«
»Was wollten sie denn wissen?«
»Alles. Woher ich komme, wo ich arbeite, wohermeine Eltern stammen und ob ich ihnen Ärger machen würde.«
»Ziemlich direkt. Inzwischen hast du ja bewiesen, dass du ein anständiger Kerl bist.«
»Ja, das schon.«
»Und was die anderen Fragen angeht, ich gestehe, dass mich deine Antworten darauf auch sehr interessieren.«
Er blieb stehen, drehte mich zu sich herum, so dass ich dicht vor ihm stand. Wir hatten einen alten Bahnübergang erreicht. Sein warmer Atem strich zärtlich über meinen Mund, in dem es vor Erregung prickelte. Und wieder spürte ich ihre Süße, obgleich ich seine Lippen doch nie zuvor geschmeckt hatte. Dieser Traum war verdammt echt gewesen.
»Ist doch normal, findest du nicht?«
»Aber das sind alles oberflächliche Dinge.«
»Mag sein. Das ist nun mal der Anfang, wenn man jemanden näher kennenlernen möchte. Du weißt ja zum Beispiel auch über mich, dass ich aus Berlin komme und Abigail Stanford meine Tante ist.«
Rin berührte sanft meine Haare. Er nahm eine Locke, wickelte sie sich um den Finger und betrachtete sie von allen Seiten. »Ich weiß viel mehr über dich, als du glaubst. Du bist mutig und hilfsbereit. Ohne Roy oder mich zu kennen, hast du mir geholfen, seinen Hund zu begraben. Du hattest keine Berührungsängste, von dem toten Tier einmal abgesehen.« Er zwinkerte. »Du schreckst nicht vor Verantwortung zurück, kümmerst dich um das Café deiner Tante, obwohl du es nicht müsstest. Außerdem hast du Humor. Durch dich kann ich viel darüber lernen. Ich meine, darüber, was die Leute zumLachen bringt. Das Wichtigste aber ist, du nimmst die Menschen, wie sie sind. Du versuchst sie nicht zu ändern, nicht zu ›zivilisieren‹, wie es einige bei mir versucht haben. In deiner Nähe fühle ich mich nicht beobachtet, nicht bewertet. Das tut mir gut.«
Ich war beeindruckt von seiner Beobachtungsgabe. Vieles von dem, was er gesagt hatte, war mir nicht einmal bewusst gewesen.
»Ich mag dein Lächeln«, hauchte er und ließ meine Locke los. Ich spürte, wie sie federnd nachgab und an ihren angestammten Platz zurücksprang. Der Abstand zwischen uns wurde noch kleiner.
Gleich würde ich es erfahren. Erfahren, ob seine Lippen wirklich so sanft waren wie in meinem Traum. Ich schloss erwartungsvoll die Augen.
»Und ich mag dich.« Seine Stimme war nur ein sinnliches Flüstern, das mir einen wohligen Schauer über den Rücken jagte.
Für unendlich lange Sekunden standen wir einfach nur da. Ich wartete darauf, dass er mich küsste. Und er wartete vielleicht darauf, dass ich den ersten Schritt tat. Aber niemand regte sich, obwohl ich die starke Anziehung zwischen uns spürte. Sacht öffnete ich den Mund und nahm seinen warmen Atem auf. Ich erhielt eine Ahnung davon, wie er schmeckte. Lieblich. Süß. Auch ein bisschen herb.
»Es ist so schwer, dem zu widerstehen.«
Plötzlich lag sein Mund auf meinem. Mit leichtem Druck öffnete er mit der Zunge meine Lippen. Sein Kuss war so intensiv wie nie ein Kuss zuvor, und leider war er viel zu kurz.
Rin starrte mich ungläubig an, als könne er nicht begreifen, was über ihn gekommen war. Aber dann zog er mich an sich und küsste mich leidenschaftlich. Ungestüm drückten sich seine Lippen auf meine. Ich glaubte, seinen Herzschlag zu spüren, während ich mich eng an seine Brust schmiegte. Das war viel besser als mein Traum! Ich hatte mich so danach gesehnt, von ihm geküsst zu werden. Und jetzt, da es endlich geschah, war ich überwältigt.
»Komm mit, ich zeige dir etwas«, sagte er und nahm meine Hand. Wir sprangen von der Schiene und steuerten auf einen grasbewachsenen Hügel zu.
Dort angekommen, setzte Rin sich und öffnete die Beine, so dass ich dazwischen Platz hatte und mich an ihn lehnen konnte.
Ich lauschte dem kräftigen Schlag seines Herzens. Es hatte eine eigene
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