Schattenreiter
wie war deine Nacht?«
»Ich habe so gut geschlafen wie schon lange nicht mehr.«
Er strahlte über das ganze Gesicht. »Das freut mich zu hören. Ich habe auch sehr gut geschlafen. So gut wie schon lange nicht mehr.« Es war genau mein Wortlaut. »Der Morgen ist normalerweise sehr einsam«, gestand er. »Ich hatte fast vergessen, wie gut es sich anfühlt, neben jemandem einzuschlafen und wieder aufzuwachen. Es ist schön.«
Als er sich über mich beugte, um meinen Kopf in seine Richtung zu drehen, fiel mir auf, dass der Verband ab war. Die Wunde war verschwunden. Keine Rötung, keine Schwellung, nicht einmal Schorf war zu sehen. Das heißt, wenn ich genauer hinsah, konnte ich eine hauchdünne blasse Narbe erkennen.
»Merkwürdig.« Ich strich mit dem Zeigefinger über die Stelle, die gestern Abend noch eine blutige Wunde gewesen war.
»Der Verband hat heute Nacht gejuckt. Ich hab ihn abgenommen.« Er blickte mich entschuldigend an.
»Schon okay. Ich bin nur erstaunt, wie gut alles verheilt ist.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe dir doch gesagt, dass es schlimmer aussieht, als es ist.«
Ich nickte. Offenbar hatte ich die Situation tatsächlich falsch eingeschätzt.
»Lass uns nicht mehr daran denken«, sagte er und legte sich sacht auf mich, nahm mein Gesicht in beide Hände und küsste mich so ungestüm, dass die Bettdecke zu Boden fiel. Seine Lippen waren überall, raubten mir den Atem. Liebevoll strichen seine Finger über meinen Hals. Ich bekam eine Gänsehaut, vergaß alles um mich herum. Auch Tante Abigail.
»Heute Nacht hatte ich nur gute Träume, weil du bei mir warst«, flüsterte er und streichelte meine Wange. »Dein Zorwaya muss sehr stark sein, wenn er das vermag. Die Ti’tibrin sagen, wenn man jemandem lange genug in die Augen sieht, kann man seinen Zorwaya erkennen. Wenn ich in deine Augen blicke, sehe ich das Funkeln der Sterne.«
»An etwas Ähnliches glauben wir auch. Die Augen sind der Spiegel der Seele.«
»Du bist wunderschön, Jorani«, unterbrach er mich andächtig. »Nicht nur äußerlich. Auch hier drin.« Seine Hand legte sich auf meine Brust. »Dein Zorwaya ist schön.«
Ich war gerührt, wollte etwas ebenso Zärtliches erwidern, als mein Magen laut zu knurren begann.
Rin lachte. »Sag doch, dass du Hunger hast. Ich habe noch Pemmikan da.«
Er kletterte über mich hinweg und ging in die Küche. Kurz darauf kam er mit zwei Schüsseln zurück. In der einen befanden sich Beeren und Nüsse, in der anderen eine zähe Substanz, die ich nicht ganz zuordnen konnte.
»Probier mal«, forderte er mich auf.
»Ich weiß nicht.« Die braune Paste sah nicht gerade appetitlich aus. Außerdem hatte ich weder eine Gabel noch einen Löffel.
»Wie isst man das überhaupt?«
»Am besten mit Brot.«
»Hast du welches da?«
»Na klar.«
Er holte zwei helle Fladenbrote aus der Küche. Eines davon reichte er mir. Ich riss ein Stück ab, tunkte es zögernd in die klebrige Paste und steckte es mir in den Mund. Ein wirklich scheußlicher Geschmack breitete sich auf meiner Zunge aus. Ich bekam es kaum herunter, musste mich zum Schlucken zwingen.
»Scheint nicht dein Fall zu sein?« Rasch brachte er mir ein Glas Wasser zum Runterspülen.
»Tut mir leid. Wenn du nichts dagegen hast, bleibe ich bei Brot und Beeren.«
»Kein Problem. Umso mehr Pemmikan ist für mich da.«
»Was ist das überhaupt?« Ich konnte es beim besten Willen nicht identifizieren. Selbst jetzt nicht, nachdem ich es gekostet hatte.
»Pemmikan wird aus zerstoßenem Dörrfleisch hergestellt. Eigentlich ist es Essen für unterwegs. Ich erinnere mich, dass Mutter uns immer eine Ration mitgab, wenn wir in die Wälder gingen, um Schießübungen mit dem Bogen zu machen. Sie sollte für den ganzen Tag reichen, doch schon nach zwei Stunden hatten wir alles aufgegessen, weil es so gut schmeckte.«
»Lebt sie hier? Ich meine, in der Nähe von Calmwood?«
Rin tunkte sein Brot in die Paste und steckte es sich dann behaglich seufzend in den Mund. Er ließ sich Zeit mit der Antwort. »Ja, das tut sie. Sie lebt in unserem Dorf Ven’ Callas, wie die anderen Ti’tibrin E’neya auch.«
Ich war plötzlich sehr aufgeregt. Dass sein Stamm in der Nähe lebte, hatte ich nicht gewusst.
»Ich würde dein Dorf gern sehen und deine Familie kennenlernen.«
»Das wird nicht ganz einfach.« Er erhob sich und deutete zum Badezimmer. »Entschuldige mich bitte, ich brauche eine Abkühlung.«
Mir kam es vor, als wollte er vor weiteren Fragen
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