Schattenreiter
Wald geflohen war, der Rin verletzt hatte. Jetzt trennten uns nur wenige Schritte voneinander. Ich konnte sogar seinen riesigen Schatten sehen, wenn ich mich leicht vorbeugte. Er war ungewöhnlich langgezogen, was erahnen ließ, welch Hüne Kronn war.
»Quo farn-tii sol’i i?«
Zum ersten Mal empfand ich es als beunruhigend, die Sprache der Kentauren nicht zu verstehen.
»Sie wird ihn ablenken«, raunte Rin und lauschte weiter den kehligen, dennoch melodischen Lauten, die durch die Stille der Nacht hallten. Ich konnte nur hoffen, dass es Hevova tatsächlich gelang und Kronn keinen Verdacht schöpfte.
»Tsiff-ti ole? Tsiff-e to Gaien.« Seine Stimme war gepresst, verriet Anspannung. Hatte er etwas gemerkt?
»Nev. Ko-tii. Rutiwat-wii tsi’me’a Utee ol.«
»Gol.«
Sie schwiegen. Das machte mich nur noch nervöser. Kronn brauchte nur zwei oder drei Schritte zu tun, und er würde mich entdecken. Ich konnte nicht weg von hier, ohne dass er mich sah, und zitterte ohne Unterlass. Die Anspannung war mit Händen zu greifen. Rins Hand schloss sich fest um meine. Es tat beinahe weh. Aber dann entfernten sich ihre Schritte endlich, und ich atmete auf. Vorsichtig spähte ich hinter dem Felsen hervor und sah, wie sich Hevova bei dem roten Krieger einhakte. Ein Horn hing an seinem Gürtel. Sie gingen auf das Lager zu. Er war wirklich ein Riese. Hevova reichte ihm nicht einmal bis zur Schulter. Wer in die Gewalt dieses Mannes gelangte, der überlebte nicht lange, da war ich mir sicher.
»Die Luft ist rein«, flüsterte ich, als ich die beiden kaum noch erkennen konnte.
»Aber da stimmt was nicht. Er hat sie gefragt, ob sie das auch riecht«, meinte Rin nachdenklich.
»Was riecht?«
»Den Menschengeruch.«
Er schaute mich besorgt an. »Mir wäre es wirklich lieber gewesen, du wärst in Calmwood geblieben.« Das klang so halbherzig, wie es gemeint war, denn ich wusste, dass er sich in Wahrheit genauso nach mir gesehnt hatte wie ich mich nach ihm.
Zärtlich fuhr seine Hand durch meine Locken. »Geh in deine Stadt zurück, Jorani. Dort bist du sicher. Ich weiß nicht, ob Kronn etwas ahnt.«
Ich seufzte. Durch dieses kurze Wiedersehen war mir klargeworden, wie sehr ich seine Gegenwart genoss, mich danach sehnte. Und jetzt, da sich unsere Wege wieder trennen sollten, fiel es mir unendlich schwer, mich von ihm zu lösen. Aber die Vernunft siegte.
Rin erhob sich, half mir auf und gab mir einen langen, tiefen Abschiedskuss.
»Sei auf der Hut«, warnte er mich.
»Ich gebe mir Mühe.« Rin lächelte mich zärtlich an, dann wandte er sich ab und kehrte zum Lager zurück.
Auch ich machte mich auf den Weg, versteckte mich hinter den Felsen und in ihren Schatten, um nicht vom Lager aus gesehen zu werden. Der Geier folgte mir. Wahrscheinlich hoffte er immer noch auf einen Mitternachtsbissen. Aber den Gefallen würde ich ihm nicht tun. Heute gab es kein Aas.
Ich irrte durch die Badlands und versuchte, mich an den richtigen Weg zu erinnern. Glücklicherweise holte mich Hevova bald ein und brachte mich auf ihrem Rücken bis zum Truck. Isaac war hinter seinem Steuer eingeschlafen. Er tat mir leid. Meinetwegen hatte er eine ziemlich unruhige Nacht. Und es sah nicht danach aus, als würde sie allzu bald zu Ende sein. Behutsam weckte ich ihn.
»Wo bin ich?« Es dauerte einen Moment, ehe er sich orientiert hatte. Dann starrte er mich ungläubig an. »Du bist ja grün! Von oben bis unten.«
Ich lachte und schnallte mich an. Isaac fuhr sich mit beiden Händen über die Stirn, öffnete eine Coladose und trank sie in einem Zug leer. »Das macht wach«, sagte er und startete den Motor.
»Du hast etwas gut bei mir«, versprach ich.
10. K APITEL
L eise klopfte es an meine Zimmertür. Ich drehte mich müde im Bett herum und vergrub mein Gesicht im Kissen. Ich wollte niemanden sehen, einfach nur schlafen. Wann war ich ins Bett gekommen? Ich wusste es nicht so genau. Doch die ersten Strahlen der Morgensonne hatten den Himmel bereits gefärbt, als Isaac den Pickup-Truck vor dem Desert Spring geparkt hatte. Es klopfte erneut.
»Wer ist da?«, murmelte ich in mein Kissen.
»Deine Tante. Bist du wach?«
Was für eine Frage.
»Ja, sonst würde ich doch nicht antworten«, brummelte ich und gähnte.
»Wie bitte?«
Ich hob den Kopf, und meine wilde Lockenmähne fiel mir ins Gesicht. Ich konnte nichts sehen, schob sie mir mit einer Hand aus der Stirn und warf einen Blick auf den Wecker. Mich traf fast der Schlag. 15 Uhr! Ich hatte den halben
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