Schattenriss
Kugelschreiber zog einen entschlossenen Kreis um das fragwürdige Wort. Dann zeichnete er jeden einzelnen der sechs Buchstaben noch einmal sorgfältig, beinahe andächtig nach. M-A-L-I-N-A
»Ich habe mich kundig gemacht«, meldete sich Luttmann zu Wort, der an diesem Morgen ein blütenweißes T-Shirt und eine graue Trainingsjacke trug. »Der Name Malina stammt aus dem Hebräischen und ist so etwas wie eine Koseform von Magdalena.«
»Na bitte«, rief Büttner, »dann hat unser Geiselnehmer also nach einer Frau gefragt.«
Goldstein brachte Werner Brennickes Assistenten mit einem kurzen Seitenblick aus seinen Adleraugen zum Schweigen.
»Der Roman, von dem Monika eben gesprochen hat, ist im Zusammenhang mit der Namenserklärung natürlich auch erwähnt«, fuhr Luttmann fort, wobei er hörbar Mühe hatte, sich an seinem Kaugummi vorbei verständlich zu machen. Als er merkte, dass er auf diese Weise nicht weiterkommen würde, nahm er das Hindernis aus dem Mund und stopfte es blind in eine leere Coladose, von denen selbst zu dieser frühen Stunde schon wieder drei neben seinem Stuhl standen. »Drüber hinaus ist Malina übrigens auch noch eine Rebsorte, ein Ort in Bulgarien, die Sonnengöttin der Eskimos und ... Augenblick, wo war das noch gleich?« Der junge Kriminaltechniker kniff die hellblonden Brauen zusammen, während seine Augen suchend über den Monitor seines Laptops glitten. »Ach ja, hier: Fremdsprachlich gesehen bedeutet das Wort MALINA so viel wie Himbeere.«
»Über was für eine Sprache reden wir hier?«, erkundigte sich Richard Goldstein, der noch immer gedankenverloren auf das Wort starrte, das auf seinem Aktendeckel geschrieben stand.
»Polnisch und Kroatisch«, antwortete Luttmann.
»Ach du lieber Gott.« Jens Büttner streckte seine langen, austrainierten Beine unter den Mahagonitisch und sah Goldstein an. Ein ausdauernder, provozierender Blick. »Bringt Sie das etwa irgendwie weiter?«
»Das weiß ich noch nicht«, entgegnete der Unterhändler, ohne auf die Provokation anzuspringen.
»Himbeere«, kicherte Büttner. »Vielleicht sind diese Leute auf der Suche nach einem Obsthändler.«
Niemand lachte.
»Diese Serie von Banküberfällen, die mit unserem Fall korrespondieren könnte ... Die war doch in Tschechien, oder?«, fragte Goldstein.
Luttmann bejahte.
»Polnisches Grenzgebiet?«
»Leider nein.«
»Schade.« Der Unterhändler griff wieder nach seinem Kugelschreiber, den er zwischenzeitlich aus der Hand gelegt hatte. »Ruf Jüssen an und sag ihm, dass er die Angestellten der Filiale nach einer Person namens Malina befragen soll ... Oder nein. Warte.« Er legte die Stirn in Falten und schüttelte dann langsam und entschieden den Kopf. »Die Kollegen sollen auf keinen Fall explizit nach einer Person fragen. Damit geben wir unter Umständen schon viel zu viel vor. Stattdessen sollen sie es so machen wie unser Freund in der Bank: Lass sie schlicht und einfach nach Malina fragen. Was immer das ist ...«
»Geht klar«, nickte Luttmann und griff nach seinem Handy.
Goldstein schob sich etwas in den Mund, das wie eine Tablette aussah. Vielleicht hatte er Kopfschmerzen. »Was wissen wir inzwischen über die anderen Geiseln?«, wandte er sich anschließend wieder an seine Profilerin. »Was sind das für Leute? Wie leben sie?«
»Spielt es irgendeine Rolle, wie sie leben?«, fragte Büttner.
»Alles kann eine Rolle spielen«, entgegnete Goldstein.
Verhoeven hatte unwillkürlich darauf gewartet, dass der Unterhändler um ein Glas Wasser bitten oder sich zumindest eine frische Tasse Kaffee einschenken würde. Aber was immer er genommen hatte – er schluckte es pur, ohne Flüssigkeit.
»Etwas über das Privatleben der Geiseln zu wissen kann durchaus nützlich sein«, ließ sich Monika Zierau derweil zu erklären herab, indem sie ein handbeschriebenes DIN-A4-Blatt aus ihrem Collegeblock zog. »Etwa, wenn es darum geht, zu beurteilen, wie sich die einzelnen Geiseln im Fall eines Sturmangriffs verhalten werden. Oder um einschätzen zu können, wie sich die Stimmung im Versteck entwickelt, wenn sich die Sache länger hinzieht. Dieses Wissen wiederum kann die Entscheidung beeinflussen, welche Geisel man als Erstes austauscht, falls sich die Entführer auf einen entsprechenden Deal einlassen. Und welche eben nicht.«
»Und welche würden Sie austauschen?«, gab Brennickes Adlatus zurück.
»Was glauben Sie, warum ich wissen will, mit wem ich es zu tun habe?«, schnappte Goldstein, doch seine
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