Schattenriss
unausgesprochenen Konsens gegeben hatte, die ermordete Kassiererin mit keiner Silbe zu erwähnen. »Keine Ahnung«, antwortete sie. »Aber vermutlich nicht. Immerhin würde das einen zusätzlichen Weg bedeuten. Und damit auch ein zusätzliches Risiko.«
»Stimmt.« Quentin nickte. »Daran habe ich nicht gedacht.«
Du musst unbedingt aufhören, so rationell zu klingen, dachte Winnie Heller. Sonst merkt er, dass du nicht wie eine normale Geisel reagierst, und zieht am Ende die richtigen Schlüsse daraus! Etwas, das sie um jeden Preis verhindern musste. Andererseits reagierte Quentin Jahn selbst erstaunlich nüchtern. Das hatte er schon in der Bank getan. Aber warum eigentlich? War der Zeitschriftenhändler tatsächlich so cool? Oder wusste er mehr? Konnte er sich aus irgendeinem Grund sicher sein, dass die Entführer ihm nichts antun würden?
Malina ist jemand, von dem die Geiselnehmer vermutet oder gewusst haben, dass er sich zum Zeitpunkt des Überfalls in der Bank aufhalten würde, rief Winnie Heller sich einmal mehr ins Gedächtnis. Und falls dieser Jemand nicht Walther Lieson war, dann musste es zwangsläufig eine der anderen Personen sein, die sich zum Zeitpunkt des Bankraubs in der Filiale aufgehalten hatten.
Einer von uns, resümierte Winnie Heller unbehaglich. Einer dieser fünf Menschen, die mit mir hier unten sind und die so unglaublich harmlos aussehen. So beängstigend normal und harmlos ...
Sie blickte kurz zu Horst Abresch hinüber, der den Eimer benutzt hatte und auf dem Rückweg am Fuß der Treppe stehen geblieben war, als überlege auch er, ob er es wagen könne, die rostigen Stufen hinaufzusteigen. Doch nach ein paar Sekunden des Zögerns schien er es sich anders zu überlegen und kehrte mit schleppenden Schritten an seinen angestammten Platz neben Evelyns Matratze zurück.
Was, wenn wir tatsächlich einen Verräter unter uns haben?, dachte Winnie Heller. Wenn eine dieser fünf Personen mit den Geiselnehmern unter einer Decke steckt?
Malina ist jemand, den die Entführer in der Bank vermutet haben.
Weil er dort arbeitet ...
Oder weil er regelmäßig kommt ...
Ich zahle jeden Abend einen Großteil der Tageseinnahmen auf unser Konto ein , hörte sie wie aus dem Nichts Quentin Jahns angenehme Stimme flüstern. Das ist sicherer, als wenn das Geld die ganze Nacht über in der Kasse bleibt.
Jeden Abend, echote eine Stimme in ihrem Kopf. Das bedeutet regelmäßig. Oder fing sie jetzt langsam aber sicher an zu spinnen? Immerhin hatte Alpha in der Bank doch eindeutig verwundert auf Quentin Jahns Wortmeldung reagiert. Und auch auf dessen Eröffnung, mit Walther Lieson befreundet zu sein. Aber natürlich konnten die beiden Männer auch einfach nur verdammt gut Theater gespielt haben. Ihre Augen blieben an Jenna Gercke hängen. Wie viel von dem, was sie in den vergangenen Stunden erlebt hatte, war eigentlich echt gewesen? Und was war inszeniert, vorgetäuscht, gelogen? Wie viel an diesem Banküberfall war geplant? Und was basierte tatsächlich auf nichts anderem als purem Zufall?
Herr Lieson musste weg ...
»Ach du Schreck, der wird doch wohl hoffentlich keinen Unsinn machen«, riss Quentin Jahns – dieses Mal durchaus reale – Stimme Winnie aus ihren Überlegungen.
Sie folgte seinem Blick und sah, dass Horst Abresch wieder bei der Treppe stand und sich eben anschickte, die erste Stufe in Angriff zu nehmen.
»Was machen Sie denn?«, fragte Jenna mit Angst in den Augen, während Evelyn und Jussuf nur stumm hinüberblickten. »Wirklich, ich glaube, das sollten Sie nicht tun.«
»Sie hat recht«, sagte nun auch Quentin, der unterdessen aufgestanden war. »Sie wissen doch gar nicht, was Sie dort oben erwartet.«
»Aber irgendjemand muss doch etwas unternehmen.« Unter Horst Abreschs graumeliertem Haaransatz stand ein feiner Schweißfilm, aber er wirkte entschlossen. Vielleicht, weil er sich seinen beiden getöteten Kollegen gegenüber schuldig fühlte.
So viel zu meiner Theorie in puncto Zivilcourage, dachte Winnie Heller, indem sie zu dem Banker hinüberging und Horst Abresch sanft am Arm fasste. »Lassen Sie mich gehen«, sagte sie, ohne lange nachzudenken.
»Sie?« Die Pupillen hinter der Brille zogen sich zusammen. »Wieso Sie?«
Weil es mein Job ist, gab sie ihm in Gedanken zur Antwort. Laut sagte sie: »Ich bin kleiner und leichter als Sie. Ich meine, Sie haben doch selbst gehört, was diese verdammten Stufen für Töne von sich geben, wenn man nur kurz drauf tritt. Und wenn ich das
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