Schattenriss
»Die Sache sieht nicht allzu gut aus, oder?«
Verhoeven schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn die Entführer darauf bestehen, dass wir ihnen zu ihren Millionen auch noch den Filialleiter liefern.«
»Was wollen diese Kerle von dem Mann?«
»Das herauszufinden ist vermutlich unsere einzige Chance.« Oskar Bredeney verzog das Gesicht. »Und Lieson selbst?« »Hat angeblich keine Erklärung.«
»Das sagen sie alle.«
»Ich weiß«, seufzte Verhoeven. »Aber irgendetwas an dieser ganzen Sache ist trotzdem seltsam.«
»Was meinst du?«
»Wenn es diese Männer – aus welchem Grund auch immer – tatsächlich auf Lieson abgesehen hatten ...« Verhoeven hielt inne. »Warum haben sie ihn dann nicht direkt entführt? Aus seinem Haus zum Beispiel. Oder auf dem Weg zur Arbeit.«
»Vielleicht weil sie ein handfestes Motiv haben, dem Kerl was am Zeug zu flicken«, überlegte Bredeney. »Und weil sie aus diesem Grund fürchten müssen, dass euch dieses Motiv sehr schnell auf ihre Spur führt.«
Stimmt, dachte Verhoeven. Das wäre durchaus eine Möglichkeit!
»Wenn sie hingegen damit rechnen konnten, Lieson in der Bank anzutreffen und auf diese Weise sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, hätte sich das Risiko elegant umgehen lassen«, spann Oskar Bredeney den Faden weiter. »Angenommen, ihr Plan wäre aufgegangen ...« Er hob den Blick und sah Verhoeven direkt in die Augen. »Dann wäre Walther Lieson eine ganz normale Geisel gewesen, und alle Welt wäre davon ausgegangen, dass es bei der ganzen Sache einzig und allein ums Geld geht.«
Verhoeven stutzte. Ohne einen Grund für diese Assoziation ausmachen zu können, musste er plötzlich wieder an die Reflexion denken, die Goldstein auf dem Panzerglas des Bankschalters entdeckt hatte. An den Mund des Entführers, der sich so erstaunlich viel Zeit genommen hatte, um eine ganz bestimmte Botschaft zu formulieren. Und mit einem Mal fiel ihm auch auf, dass ein Satz, den Goldstein gesagt hatte, schon seit geraumer Zeit durch sein Unterbewusstsein geisterte, ohne dass er sich dessen bewusst gewesen wäre: Die Geiselnehmer haben alles mitgenommen. Einschließlich sämtlicher Zeugen ...
Was, wenn die Entführer im Verlauf dieses Überfalls tatsächlich etwas gesagt oder getan hätten, das uns weiterhelfen würde, überlegte er. Dann hätten sie tatsächlich alle, die dort gewesen sind, mitnehmen müssen, damit uns niemand auf die Sprünge hilft.
Der Gedanke elektrisierte ihn förmlich.
Er rieb sich die Erschöpfung aus dem Gesicht und straffte die Schultern. »Wenn wir mit unserer Einschätzung richtig liegen, sind die Entführer bei dem eigentlichen Überfall höchstens zu dritt gewesen, wobei einer dieser drei den Fluchtwagen gesteuert hat«, resümierte er. »Der vierte Mann hingegen stand zu diesem Zeitpunkt auf dem Kochbrunnenplatz und feuerte wild in die Menge. Und trotzdem haben die Kerle sieben Personen als Geiseln genommen.«
Bredeney zog seine buschigen Augenbrauen hoch. »Du meinst, das ist unverhältnismäßig?«
»Und ob«, sagte Verhoeven. »Zwei oder drei Geiseln hätten als Geleitschutz und zur Durchsetzung ihrer Forderungen vollkommen genügt. Ganz abgesehen davon, dass sich drei Personen wesentlich leichter kontrollieren lassen als sieben. Also: Warum haben diese Kerle jeden mitgenommen, der sich zum Zeitpunkt des Überfalls in der Filiale aufgehalten hat?«
»Damit es keine Zeugen gibt«, antwortete Bredeney nach kurzem Überlegen.
Verhoeven nickte eifrig. »Zeugen wofür?«
»Keine Ahnung.«
»Möglicherweise für etwas, das einer von ihnen gesagt hat«, fuhr Verhoeven fort, indem er wieder an die Reflexion auf dem Panzerglas dachte. »Angenommen, sie hätten tatsächlich explizit nach Lieson gefragt. Und als sie mitgekriegt haben, dass sie falschliegen, mussten sie notgedrungen sämtliche Ohrenzeugen mitnehmen, damit uns auch ja keiner erzählt, wer das eigentliche Ziel der ganzen Operation gewesen ist.«
»Die Sache hat nur einen Haken«, wandte Bredeney ein. »Welchen?«
»Sie verraten’s euch jetzt indirekt.«
Verhoeven blickte den langen, staubigen Gang hinunter. »Vielleicht bauen sie darauf, dass wir uns nichts dabei denken, wenn sie den Filialleiter als Geldboten verlangen. Frei nach dem Motto: Bloß keinen Polizisten als Mittelsmann.«
»Also, wenn ich einer von denen wäre«, sagte Bredeney, »dann wäre mir klar, dass ich mit einer Handvoll Geiseln zwar ’ne ganze Menge erreichen kann. Aber mir wäre genauso klar, dass
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