Schattenriss
richtig sehe, geht es uns doch jetzt erst mal darum, einen Blick über den Rand zu werfen und die Lage zu checken, oder?«
Sie hatte ihre Worte mit voller Absicht gewählt. Zum einen sollten weder Horst Abresch noch die anderen ihr Gesicht verlieren, und zumindest das Argument »kleiner« schloss in der Tat jeden einzelnen ihrer Mitgefangenen aus. Zum anderen hoffte sie inständig, dass gerade der letzte Satz selbst die ängstlichsten Zweifler unter ihren Mitgefangenen beruhigen würde. Und auch das Wort »uns« hatte sie ganz bewusst eingestreut. Sie musste den anderen das Gefühl geben, dass sie in einem Boot saßen, damit sie sich ruhig verhielten. Auch wenn sie selbst es längst besser wusste.
Und was, wenn diese Typen tatsächlich einen Verbündeten hier drin haben? , meldete sich ihre innere Stimme zu Wort. Derjenige wird sich von deiner psychologisch durchdachten Rhetorik wohl kaum beeindrucken lassen, und ehe du dich’s versiehst, bist du tot ...
»Tja, dann will ich mal«, fegte sie die durchaus nicht unbegründeten Bedenken beiseite, indem sie entschlossen den Fuß auf die unterste Stufe setzte.
Horst Abresch hingegen schien noch nicht recht überzeugt zu sein und trat nur zögerlich einen Schritt beiseite. »Sind Sie sicher, dass Sie ...«
Winnie Heller nickte. »Wird schon schiefgehen«, sagte sie mit einem aufmunternden Augenzwinkern. »Ich meine, es wäre doch wirklich zu blöd, wenn die sich längst davongemacht hätten, und wir merken’s gar nicht, was?«
Walther Liesons Stellvertreter rang sich ein dünnes Lächeln ab. »Ich fürchte, so viel Glück haben wir nicht.«
»Außerdem hat dieser Anführer doch ganz klar gesagt, dass sie uns töten, wenn wir uns von der Stelle rühren«, pflichtete Jenna ihm bei.
»Wenn ich mich recht besinne, hat Ihre Kollegin sich auch nicht nennenswert von der Stelle gerührt«, versetzte Winnie Heller, der die blonde Bankangestellte allmählich gehörig auf die Nerven ging. »Und trotzdem ist sie jetzt tot.«
Jenna schob die Unterlippe vor wie ein beleidigtes Kleinkind. »Okay, bitte. Wenn Sie so unbedingt Ihr Leben riskieren wollen, dann tun Sie’s doch.« Sie wedelte ihre perfekt manikürte Hand resigniert durch die Luft und zog sich dann schmollend in die Ecke hinter Evelyns Matratze zurück.
Winnie Heller hingegen drehte sich noch einmal kurz zu Quentin Jahn um, dem die Zweifel an ihrer Mission ins Gesicht geschrieben standen.
»Seien Sie vorsichtig.«
»Na klar.« Sie versuchte ein Lächeln. »Das bin ich eigentlich immer.«
Er kniff prüfend die Augen zusammen. Fast so, als ob er ihr nicht glaube.
»Ehrlich.«
Der Zeitschriftenhändler bedachte sie mit einem letzten, warnenden Blick aus seinen grauen Intellektuellenaugen. Dann wandte er sich ab. Kopfschüttelnd, wie Winnie Heller mit Besorgnis registrierte.
»In Gottes Namen«, sagte er. »Und viel Glück.«
3
»Hier«, sagte Oskar Bredeney, indem er Verhoeven einen nackten Schlüsselring entgegenstreckte, an dem zwei Sicherheitsschlüssel baumelten.
»Was ist das?«
»Die Schlüssel zu Winnies Apartment. Der Hausverwalter sagt, du kannst sie so lange behalten, wie du sie brauchst.« »Und er hat keine Fragen gestellt?«
Bredeney verzog sein pockennarbiges Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Doch, klar hat er das.«
»Aber du hast ihm nicht geantwortet?«
»Wofür hältst du mich?« Bredeney verdrehte in gespielter Empörung die Augen. »Vermutlich wird sie ’ne Menge Ärger kriegen, wenn das hier vorbei ist, weil ich diesem Typen einfach nicht begreiflich machen konnte, dass sie keine Schwierigkeiten mit der Polizei hat, aber da muss sie dann durch. Ach ja, und Werneuchen hat das hier für dich besorgt.« Er hielt Verhoeven ein schmucklos eingebundenes Buch unter die Nase. »Ist angeblich so ’ne Art Standardwerk für Hobby-Aquaristiker oder wie immer man diese Typen nennt, die sich mit Fischen beschäftigen.«
Diese Typen, echote Verhoeven, während er das rund fünfhundert Seiten dicke Buch in seiner Hand mit einer Mischung aus Rührung und blankem Entsetzen betrachtete. Laut sagte er: »Wann, um Himmels willen, soll ich das lesen?«
Oskar Bredeneys Ledermantel quietschte, als er beschwichtigend seine knochigen Hände in die Luft hob. »Ich hab kurz reingesehen. Es gibt ein Stichwortverzeichnis, wo du das Wichtigste nachschlagen kannst.«
»Und was ist wichtig?«, fragte Verhoeven, indem ihm die eindringliche Mahnung in den Sinn kam, die seine Tochter ihm mit auf
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