Schattenschmerz
oder aus dem Ruder liefen und um die sie sich im Büro Gedanken machen musste. Sie war frei. Frei, so lange zu arbeiten, wie sie es für nötig hielt. Ein Privileg, wie sie sich einredete.
Andrea Voss besah sich das Durcheinander auf ihrem Schreibtisch. Was hatten sie bislang herausgefunden?
Der Anschlag im Park stach aus den üblichen Kapitalverbrechen hervor: Das Vorgehen der Täter war teuflisch, die Motivlage diffus, und es war unklar, wann und wie die Attentäter weitermachen würden.
Aus dem ganzen Bundesgebiet reisten Journalisten nach Bremen, um aktuell über den Fall zu berichten. Andere riefen aus München, Köln oder Flensburg bei ihr an und versuchten, ihr ein paar Informationen zu entlocken.
Andrea fuhr sich mit ihren Fingern durch die Haare. Einzelne Strähnen ihres teuer bezahlten Kurzhaarschnitts vom Wochenende standen wie elektrisiert zu allen Seiten ab.
Wo war dieser verdammte Themenzettel? Ungeduldig schüttete sie den Papierkorb neben ihrem Schreibtisch aus. Aber die Vorschläge ihrer Chefs, die in Wirklichkeit nichts anderes als Arbeitsaufträge waren, blieben verschwunden.
Mit einer flüchtigen Handbewegung wuschelte sie ihre Haare in die andere Richtung und ließ sich gereizt in den Bürostuhl zurückfallen. Verdammt, was stand noch mal auf diesem Zettel, den sie so unwillig entgegengenommen hatte?
Sie war lange genug im Geschäft, um selbst zu wissen, wie ein solches Verbrechen journalistisch angepackt werden musste. Vor allem brauchte sie Zeit, um tiefer in die Materie einsteigen zu können. Stattdessen sollten sie und die beiden Volontäre, die man ihr an die Seite gestellt hatte, sowie der lustlose Kollege, der mehrfach betont hatte, mit «der Polizei nichts am Hut zu haben», Umfragen in der Stadt machen. Sie sollten die Passanten auf der Straße befragen, ob sie sich bedroht fühlten oder ob sie den Park künftig meiden wollten. Dagegen war die Geschichte mit den besorgten Eltern vom benachbarten Kindergarten des Tatorts natürlich durchaus sinnvoll. Ebenso wie das geplante Interview mit dem Innensenator. Aber alles in Andrea sträubte sich gegen den Vorschlag, eine Reportage über die Ängste der Mitarbeiter von
GrünesBremen
ins Blatt zu heben. Sie sah schon die Überschrift vor sich, die eine ihrer Vorgesetzten womöglich über den Artikel setzen würde: «Todesangst beim Laubharken – Arbeiter verweigern Parkpflege».
Andrea schnaubte leise auf. Als Journalisten waren sie dafür da, zu informieren, und nicht, um weiter Panik zu schüren. Natürlich würden sie unter den Gärtnern des städtischen Betriebs Mitarbeiter finden, die stark verunsichert waren. Aber in Andreas Augen ergab es keinen Sinn, auf diesem Aspekt herumzureiten.
Noch einmal schaute Andrea in den aufgeschlagenen Aktenordner, in den sie einfach alle Meldungen und Zeitungskopien zu dem Vorfall hineingeworfen hatte. Der Ordner musste dringend sortiert und die Meldungen in der richtigen Reihenfolge abgeheftet werden. Ein gutgeführtes Handarchiv würde ihr die Arbeit in den nächsten Tagen und Wochen erleichtern. Bisher hatte sie sich jeden Abend vorgenommen, es am nächsten Morgen zu machen. Doch sobald sie morgens wieder die Tür zu ihrem Büro öffnete, überrollten sie all die anstehenden Aufgaben, und der ungeordnete Stapel zwischen den Aktendeckeln wuchs von Stunde zu Stunde.
Und jetzt hatten die Täter also auch noch ein Bekennerschreiben über die
npa
veröffentlicht. Andrea hatte einzelne Passagen und Sätze der Pressemeldung gelb markiert. Vor allem ein Satz nahm ihre Aufmerksamkeit in Anspruch: ‹Die Mütter und Väter von Paghman.›
Paghman.
Andrea Voss hatte das Wort mit drei Ausrufezeichen am Rand versehen. Wie Dutzende von anderen Reportern, die sich mit dem Anschlag in Bremen beschäftigten, hatte sie im Internet nach dem Begriff geforscht. Dabei war sie auf eine Stadt gleichen Namens nordöstlich von Kabul gestoßen, die schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts wegen ihrer Paläste und Gärten gerühmt wurde. Außerdem gab es in Pakistan eine von Deutschen gegründete Schule, die unter dem Namen Paghman eingetragen war. Städte oder kleinere Ortschaften dieses Namens existierten auch in Turkmenistan und dem Iran.
Andrea hatte anschließend auch die Wörter Mine und Bombe eingegeben und sie in allen denkbaren Varianten mit Paghman kombiniert. Vergeblich.
Bis auf die Tatsache, dass scheinbar alle Orte mit diesem Namen in Unruhegebieten lagen, gab es keine politische Initiative,
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