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Schattenspiel

Schattenspiel

Titel: Schattenspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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getrampelt werden.
    Er versuchte sie zu beruhigen. »Psst! Ganz ruhig! Ist ja alles gut! Ruhig!«

    Aber die Pferde steigerten sich in eine Hysterie, in der sie nicht mehr erreichbar waren. Der Schwarze hatte nur darauf gewartet. Überzüchtet und hochgradig nervös wie er war, langweilte er sich auf der stillen Farm zu Tode, und er befand sich in einer Stimmung, in der ihn das Ritschen eines Streichholzes explodieren lassen konnte. Hoch aufgebäumt stand er da und wirbelte mit den Beinen. Gipsy wich zurück, als die Hufe hinuntergesaust kamen, aber er stieß gegen ein anderes Pferd. Schützend hielt er die Arme vors Gesicht. Ein Schlag traf seine Hand, er brüllte laut auf vor Schmerz. Der nächste streifte seine Schulter und riß sein Hemd in Fetzen. Er versuchte auf das Pferd zu klettern, das hinter ihm stand, aber das bäumte sich ebenfalls auf, und er war mit seiner kaputten Hand nicht schnell genug. Er rutschte kraftlos wieder hinunter. Der Schwarze hatte sich umgedreht und schlug mit den Hufen nach hinten aus. Er zerschmetterte Gipsys linkes Knie und versetzte ihm gleich darauf einen Tritt in den Unterleib, der ihn halb bewußtlos vornüberkippen ließ. Im Fallen empfand er plötzlich Todesangst, überwältigend heftig. Das verwunderte ihn, denn sein Tod stand seit langem fest, und er verstand nicht, weshalb er noch an diesem schmerzvollen, kaputten, krebszerfressenen Leben hing. Aber er hing daran, mit jeder Faser seines Wesens hing er daran. Er schluchzte auf, der ganze Wahnsinn der letzten Jahre glitt blitzschnell durch sein Gedächtnis, und am schlimmsten war der Kummer darüber, daß sein Leben sinnlos und verpfuscht gewesen war, daß er es umnebelt vom Alkohol, eingesponnen in seinen Haß hatte vergehen lassen. Warm lief ihm das Blut aus der Nase, gleichzeitig füllte es von innen her seinen Mund, trat sprudelnd über seine Lippen.
    Von weither hörte er seinen Namen; er wußte, es war das dunkelhaarige Mädchen, das nach ihm rief. Diese wunderschöne, junge Frau... und John würde sie zum Teufel gehen lassen. So wie ihn. Ein Hufschlag traf seinen Kopf. Er war in derselben Sekunde tot.
     
    »Hafer!« brüllte John. »Schütte ihnen Hafer in den Trog! Das lenkt sie ab!«

    »Wo ist der Hafer?«
    »Mein Gott, ich weiß es auch nicht. Im Stall wahrscheinlich. Schau halt nach!«
    Sie rannte in den Stall, suchte fluchend nach dem Lichtschalter, fand ihn endlich und knipste die schummrige Beleuchtung an. Gehetzt blickte sie sich um und entdeckte endlich einen großen Sack mit der Aufschrift »Hafer«. Sie schnappte sich einen herumstehenden Eimer, tauchte ihn tief in die Tüte, zog ihn zur Hälfte mit Hafer gefüllt wieder heraus und lief auf den Hof. Der Eimer war schwer. Sie biß die Zähne zusammen.
    Lieber Gott, laß Gipsy am Leben bleiben!
    Die Pferde tobten noch immer. Von Gipsy keine Spur, er mußte irgendwo inmitten des wütenden Knäuels zu Boden gegangen sein. John riß Gina den Eimer aus der Hand und jagte zum Zaun, an dessen Innenseite die Rinne für den Hafer verlief. »Hey!« rief er, so laut er konnte. »Hey, ihr verdammten Viecher, ihr habt hier etwas zum Fressen!«
    Die Pferde begriffen sofort und kamen eilig heran. Im Nu herrschte Stille. Einträchtig standen sie in Reih und Glied und fraßen ihren Hafer.
    Gina rannte sofort ins Innere des Gatters. Sie entdeckte Gipsy als blutigen, leblosen Klumpen Mensch. Den Tränen nahe beugte sie sich zu ihm hinunter und versuchte vorsichtig, das ineinander verschlungene Gewirr von Armen und Beinen zu lösen. »Gipsy! Gipsy, hörst du mich?«
    Krank und entkräftet, wie er gewesen war, wog sein Körper doch noch schwer. Gina schaffte es kaum, ihn von der Stelle zu bewegen. John erschien neben ihr. Gemeinsam schleiften sie Gipsy an den Armen aus dem Gatter hinaus in den Hof. Dort ließen sie ihn fallen. Eine dünne Blutspur markierte den Weg.
    »Er ist tot«, sagte John, nachdem er Gipsy untersucht hatte.
    Gina starrte ihn entsetzt an. »Bist du sicher?«
    »Ja — oder hast du schon mal einen Lebenden gesehen, dem weder Puls noch Herz schlägt?« fauchte John. Er betrachtete die Blutspur und sagte: »Irgendwo müßte es doch hier einen Gartenschlauch geben, mit dem ich das wegspritzen kann!«

    »Wir müssen einen Arzt holen«, drängte Gina, »er soll Gipsy noch einmal...«
    »Bist du wahnsinnig? Damit er dann möglichst noch die Polizei verständigt?«
    »Ja, was willst du denn sonst machen? Wenn Gipsy tatsächlich tot ist, willst du dann seinen Tod

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