Schattenspur
sie niemals tun.
Sie sah auf die Uhr. Kurz vor Mitternacht. Sie musste die Sachen, die sie brauchte, so schnell wie möglich aus der Wohnung ihrer Großmutter holen. Aber wenn sie die Wohnung verließ, würde Charlie darauf bestehen, sie zu begleiten. Was bei näherer Betrachtung nicht das Schlechteste wäre. Wenn sie ein Taxi rief, hinterließ sie dadurch für die Agents eine Spur, die sie so sor g fältig zu verwischen versucht hatte. Und sie musste Charlie nicht auf die Nase binden, was sie holen wollte. Sie verließ sein Schlafzimmer.
Er fuhr aus der lümmelnden Haltung auf, in der er sich auf der Couch flä z te, und strich seine Rastazöpfe und seine Kleidung reflexartig glatt. Er scha l tete den Fernseher stumm.
„Entschuldige, wenn der Fernseher zu laut war. Ich hatte ganz vergessen, dass du da bist.“
Sie spürte, dass er log und in Wahrheit die ganze Zeit an sie gedacht hatte. „Nein, der Fernseher hat mich nicht gestört. Mir ist nur eingefallen, dass ich dringend was von meiner Großmutter holen muss. Aus ihrer Wohnung. Ich hatte es bei meiner überstürzten Flucht vergessen.“
Charlies Augen wurden groß. „Mitten in der Nacht?“ Er schüttelte den Kopf. „Mensch, das ist viel zu gefährlich. Selbst wenn es nicht mitten in der Nacht wäre.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Das Risiko muss ich eingehen. Ich habe zwar nicht Großmutters Fähigkeiten hinsichtlich von Ouanga, aber ich hoffe, dass ich genug weiß, um ihr helfen zu können. Ich muss es zumindest vers u chen. Der Typ, der hinter mir her ist, wird sich bei meiner Wohnung auf die Lauer legen und nicht damit rechnen, dass ich mitten in der Nacht in Gro ß mutters Wohnung auftauche. Und selbst wenn – das muss ich riskieren. Ich kann sie nicht einfach in diesem Zustand lassen, ohne wenigstens zu vers u chen, ihr zu helfen.“ Sie ging zur Tür.
Charlie vertrat ihr den Weg. „Das verstehe ich. Aber ich lasse dich auf ke i nen Fall allein gehen. Ich fahre dich hin. Und falls der Typ dort auf der Lauer liegen sollte, mache ich ihn fertig.“
Sie hatte auf das Angebot gehofft und nahm es mit einem dankbaren L ä cheln an. Vor allem auch, weil sie wusste, dass Louis garantiert nicht im L a den oder in der Wohnung auf sie lauern würde. Er vertraute darauf, dass seine Erpressung wirkte. Und das FBI wartete mit Sicherheit ebenfalls nicht auf sie, denn Agent Scott hatte seine Rückkehr erst für morgen angedroht. Sie war sich sicher, dass er sein Wort halten würde, obwohl sie nicht sagen kon n te, warum sie sich dessen so sicher war.
Wenig später fuhr sie mit Charlie zum Laden ihrer Großmutter. Wie sie e r wartet hatte, war der Laden dunkel und niemand hielt sich dort auf. Auch die Polizei war nirgends zu sehen. Sie hinderte Charlie daran, ihr in die Wohnung zu folgen mit dem Argument, einer sollte aufpassen, falls jemand überr a schenderweise käme. Charlie übernahm das gern – mit einer Pistole in der Hand. Kia hatte nicht gewusst, dass er eine besaß und auch nicht bemerkt, dass er sie mitgenommen hatte. Das hätte sie beunruhigt, wenn sie damit hätte rechnen müssen, dass sie jemandem begegneten. Doch das war höchst unwahrscheinlich.
Sie ging ins Schlafzimmer ihrer Großmutter und kroch unter das Bett. Am Paneel an der hinteren Wand war ein Brett lose und verbarg einen Hohlraum. Kia löste das Brett und griff hinein. Kalter Schreck durchzuckte sie, als ihre Hand ins Leere griff. Der Hohlraum war nicht groß, sodass sie ihn vollstä n dig abtasten konnte. Doch er war und blieb leer. Hatte Louis das Artefakt gefunden und mitgenommen?
Nein, denn in dem Fall hätte er von dessen Existenz wissen müssen. Kia wusste aber, dass ihre Großmutter es erst angefertigt hatte, nachdem Kia aus Haiti geflohen und hier in Savannah eingetroffen war. Louis konnte also gar nichts von seiner Existenz wissen. Dass das Artefakt nicht an seinem Platz war, konnte nur bedeuten, dass Großmutter es woanders ve r steckt haben musste. Warum? Und vor allem, wo?
Kia krabbelte unter dem Bett hervor und blickte sich im Schlafzimmer um. Gleich darauf schalt sie sich eine Närrin. Das Artefakt stellte ein machtvolles Ouanga dar, dessen Kraft regelmäßig gestärkt werden musste, damit es seine Wirkung nicht verlor. Bestimmt hatte Großmutter es an einen Ort gebracht, an dem es mit den erforderlichen Energien gefüttert wurde. Da sie Priesterin des Wassers war, hatte sie es bestimmt dem Fluss anvertraut an einer Stelle, an der es nicht von unbedarften
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