Schattenwandler 05. Noah
Geduld lieber darauf hätte verwenden sollen, mit den Folgen seiner Offenheit umzugehen, statt erst gar nicht offen zu sein.
Als er sie im Schlaf betrachtete, wurde ihm klar, dass sie nicht hier war, um auf ihn zu warten. Sie war hier, weil sie das Bett mied, in dem er sie allein zurückgelassen hatte. Nun, damit hatte es hier und jetzt ein Ende, dachte er entschlossen. Er hatte geschworen, sie niemals absichtlich zu verletzen, und er hatte das Versprechen gebrochen. Er hatte es gewusst, als er gegangen war, und trotzdem hatte er nicht genug Ehrgefühl besessen, sich zu bremsen und seinen inneren Aufruhr in den Griff zu bekommen. Was war schon sein Schmerz gegen ihren? War er schon immer so selbstsüchtig gewesen? Seine Mutter wäre entsetzt gewesen über sein Verhalten.
Oder vielleicht hätte Sarah das Dilemma zwischen ihm und Kestra besser verstanden als irgendjemand sonst. Die Verwirrung, die Plötzlichkeit der Ereignisse, das Widerstreben und die Unabhängigkeit, gegen die sein Vater hatte ankämpfen müssen. Und Ariel war sich seiner Liebe und seiner Bestimmung genauso sicher gewesen wie Noah, trotz Sarahs Widerstand. Als ihm plötzlich die Parallelen zwischen Kestra und ihm und dem Beziehungsbeginn seiner Eltern bewusst wurden, musste er lachen. Wie oft hatte er Legna und Hannah das von seiner Mutter selbst aufgeschriebene Märchen vorgelesen, nachdem seine Eltern gestorben waren? Wie oft den Neffen und Nichten? Und dann Leah?
Und erst jetzt verstand er, dass es eine Lehre enthielt, die sich auf seine momentane Situation bezog. Sein Vater war Sarahs Ängsten und ihrer Zurückweisung allein mit Vertrauen begegnet und mit der Gewissheit über die Prägung. Er war ganz er selbst gewesen, von Anfang bis Ende, hatte nur bis zu einem bestimmten Punkt Geduld gezeigt und dann die Karten auf den Tisch gelegt. Und Sarah war gerannt. Wie verrückt.
Und er hinter ihr her. Hatte sie eingefangen. Sie beschworen. Wie Noah selbst es bei Kestra getan hatte, nur dass er vergessen hatte, bei der Wahrheit zu bleiben. Einfach zu sein, was er war. Sein Vater hatte nur einen einzigen Kompromiss gemacht, und das war sein Beruf gewesen.
»Was war ich nur für ein Idiot«, murmelte Noah.
Beim Klang seiner leisen, vertrauten Stimme öffnete Kes die Augen. Sie setzte sich rasch auf, und er folgte ihr mit dem Blick. Ihre Blicke trafen sich. Instinktiv bewegten sich beide, obwohl keiner es beabsichtigt hatte. Sie schoss aus dem Sessel hoch, und er hatte mit einem Schritt den Abstand zwischen ihnen überwunden. Sie warf sich in seine Arme, und er zog sie ganz fest an sich.
»Es tut mir so leid«, flüsterte er an ihrem Ohr. »Ich habe keine Entschuldigung dafür. Bitte vergib mir.«
»Nein. Doch, du hast eine Entschuldigung, nicht?«, sagte sie leise. »Aber du wirst sie nicht verwenden, weil du Angst hast, dass es mich beunruhigen könnte.«
»Es gibt keine Ausrede dafür, dass ich dich auf eine solche Weise zurückgelassen habe. Keine.« Er küsste sie auf die Wange. »Ich habe deinen Schmerz gespürt. Ich habe ihn bei jedem Schritt gespürt, den ich gemacht habe, und trotzdem habe ich mich nicht wieder in den Griff bekommen.«
»Und ich habe deinen Schmerz gespürt«, erwiderte sie, während sie mit den Händen sein Gesicht umfasste und den Kopf in den Nacken legte, um Smaragd und Rauch in seinen Augen zu betrachten. »Hast du gedacht, ich soll versuchen, mit deinem Geist in Verbindung zu treten? Mit deinen Gefühlen? Wenn sie so intensiv sind, dann überschwemmen sie mich wie eine Flut.« Kestra spürte, wie er erstarrte, doch gleich darauf atmete er aus und entspannte sich wieder.
»Du hast es gewusst?«
»Dass du mich liebst?«, fragte sie leise mit zärtlichem Blick. »Ja. Das weiß ich schon eine ganze Weile, Noah. Aber erst als du gegangen bist, habe ich plötzlich verstanden, warum du es mir nicht sagen wolltest. Du hast es für dich behalten, weil du mich schützen wolltest. Wie immer.« Sie lachte leise. »Willst du mich die ganze Zeit mit Samthandschuhen anfassen?«
Noah strich ihr mit der Hand über das zerzauste Haar. Einen Moment lang war er sprachlos, und belustigt. Was für ein Drama, und sie hatte es schon längst gewusst. Und sie war noch immer da. Sein Herz schlug hoffnungsvoll und erfreut schneller.
»Ich verstehe langsam, was ich falsch gemacht habe und was ich in Zukunft vermeiden sollte«, sagte er ernst zu ihr.
»Das wirst du.« Sie lächelte nachsichtig. »Weißt du, es sind nicht deine Gefühle für
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