Schau Dich Nicht Um
Springfield, zum ersten Mal seit drei Jahren zu Besuch bei seinen Eltern. Er würde am Sonntag zurück in Chicago sein. Unterdessen rief er sie jeden Abend
um zehn Uhr an, um ihr gute Nacht zu wünschen, und um ihr zu sagen, daß er sie liebte.
Jess hatte von ihren Gefühlen noch nicht gesprochen. Sie war sich ihrer nicht sicher. Sie wußte, daß sie sich stark zu ihm hingezogen fühlte; sie wußte, daß sie ihn sehr gern hatte; sie verstand, was er durchlitten hatte. Aber liebte sie ihn? Das eben wußte sie nicht. Sie hatte zu große Angst vor ihren Gefühlen, um es wissen zu wollen.
Geh mit ihnen, hörte sie ferne Stimmen murmeln. Gib ihnen einfach nach.
Vielleicht nach der Vorverhandlung. Vielleicht wenn es ihr gelungen war, Rick Ferguson unter Anklage stellen zu lassen, vielleicht konnte sie dann die nagenden Zweifel an Adam vergessen, die Don ihr eingepflanzt hatte, und zulassen, daß das, was zwischen ihnen begonnen hatte, eine ganz natürliche Entwicklung nahm.
Vertrau deinem Instinkt, murmelten die Stimmen. Vertrau deinem Instinkt.
»Nach Ihnen«, sagte Tom Olinsky, zog die Tür auf und ließ Jess den Vortritt. Ein seltsamer Moment für Ritterlichkeit, dachte Jess. Sie sah sich in dem runden, fensterlosen Gerichtssaal um.
Die Räume in der dritten, vierten und fünften Etage erinnerten Jess an kleine Raumschiffe, spärlich eingerichtet, vornehmlich in Grau gehalten, mit einer Glaswand, hinter der sich der halbrunde Zuschauerraum befand. Der Richtertisch stand der Tür gegenüber, die Geschworenenbank war entweder rechts oder links vom Richtertisch, je nachdem, in welchem Gerichtssaal man war. In diesem hier war die Geschworenenbank, die bei der Vorverhandlung leer bleiben würde, links vom Richtertisch.
Nach vier Uhr nachmittags wurden in diesen Gerichtsräumen ausschließlich Drogenfälle verhandelt. Immer war Hochbetrieb.
Jess und Tom Olinsky gingen zum Tisch der Anklage, an dem schon Neil Strayhorn wartete. Jess stellte ihre Aktentasche auf den Boden und sah sich um.
»Die Zeugen sind noch nicht hier«, sagte Neil, der wußte, wonach sie Ausschau hielt.
»Habt ihr bei der Polizei nachgefragt und euch vergewissert, daß sie benachrichtigt worden sind?« fragte Tom Olinsky und setzte sich neben Neil.
»Ja, heute morgen um Viertel vor acht«, antwortete Jess. Sie verstand nicht ganz, weshalb er ihr diese Frage überhaupt stellte. Es war doch klar, daß sie sich mit der Polizei abgesprochen hatte, um sicherzustellen, daß die Zeugen erscheinen würden. Genauso wie sie im Labor angerufen hatte, um das Ergebnis der Untersuchungen des gefundenen Beweismaterials durchzusprechen; genauso wie sie mit Hilary Waugh die Fragen abgesprochen hatte, die sie ihr im Zeugenstand stellen würde. Außerdem würden Connies Mutter, Mrs. Gambala, eine Arbeitskollegin Connies und Connies beste Freundin aussagen. Sie würden das Vorbringen des Staatsanwaltes bestätigen, daß Connie DeVuono vor Rick Ferguson Todesangst gehabt hatte, weil der ihr gedroht hatte, sie umzubringen, falls sie ihre Anzeige wegen Vergewaltigung aufrechterhalten und gegen ihn aussagen sollte. Und damit würde das Mordmotiv gegeben sein.
»Tom, Sie brauchen nicht zu bleiben«, sagte Jess. »Neil und ich schaffen das schon.«
»Ich möchte gern sehen, wie es läuft«, sagte er und lehnte sich auf seinem Stuhl, dessen Sitzfläche für sein ausladendes Gesäß viel zu schmal war, zurück.
Jess lächelte. Sie war dankbar für die moralische Unterstützung. Er hatte ihr die ganze Woche die Hölle heiß gemacht, kein Hehl daraus gemacht, daß ihm das Beweismaterial nicht ausreichend erschien, aber am Ende hatte er ihrem dringenden Wunsch nachgegeben.
»Ich habe den Eindruck, die Frau da sucht Sie«, sagte Tom, als die Tür zum Gerichtssaal sich öffnete und eine ältere Frau ganz in Schwarz sich zaghaft umsah.
»Mrs. Gambala«, sagte Jess und ging auf die Frau zu. Sie nahm ihre beiden Hände. »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind.«
»Wir bringen dieses Ungeheuer hinter Gitter?« fragte Mrs. Gambala erwartungsvoll.
»Ja, wir bringen dieses Ungeheuer hinter Gitter«, versicherte ihr Jess. »Sie kennen meinen Mitarbeiter Mr. Strayhorn. Und das hier ist Mr. Olinsky, mein vorgesetzter Staatsanwalt. Tom, das ist Connie DeVuonos Mutter, Mrs. Gambala.«
»Guten Tag, Mrs. Gambala«, sagte er und stand auf. »Wir wollen hoffen, daß Sie hier bald wieder herauskommen.«
»Hauptsache, die Gerechtigkeit siegt«, erwiderte Mrs. Gambala.
»Sie müssen
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