Schau Dich Nicht Um
ging.
Sie blieb stehen, wischte sich die Augen, ehe sie sich herumdrehte. »Wie meinen Sie das?«
»Sie sind in diesen Fall tiefer verstrickt, als für alle Beteiligten gut ist. Verstehen Sie mich nicht falsch«, fuhr er fort, ohne auf einen Einwand von ihr zu warten. »Eben die Empathie, die Sie in vielen Fällen für die Opfer einer Straftat entwickeln, macht Sie zu einer Staatsanwältin von besonderem Format. Sie erkennen dadurch Dinge, die wir anderen manchmal übersehen; Sie sind dadurch um so stärker motiviert und kämpfen um so härter. Aber hier spüre ich noch etwas anderes. Habe ich recht? Und werden Sie mir sagen, was es ist?«
Jess zuckte die Achseln und wehrte sich verzweifelt gegen das aufsteigende Bild ihrer Mutter. »Vielleicht mag ich nur nichts Unerledigtes.« Sie versuchte zu lächeln und schaffte es nicht. »Oder vielleicht kämpfe ich einfach gern.«
»Aber selbst Sie brauchen eine Waffe, mit der Sie kämpfen können«, erwiderte Tom Olinsky. »Hier haben wir keine. Ein guter Verteidiger - und Ihr geschiedener Mann ist ein sehr guter Verteidiger - würde uns in Fetzen reißen. Wir brauchen Beweise, Jess. Wir brauchen eine Leiche.«
Jess sah Connie DeVuono vor sich, wie sie ihr mit blitzenden Augen in dem kleinen Besprechungszimmer gegenübergesessen hatte, und versuchte, sich die Frau kalt und leblos auf einer verlassenen Straße liegend vorzustellen. Das Bild ließ sich leichter imaginieren, als Jess vorausgesehen hatte. Es verursachte ihr Brechreiz. Sofort preßte sie die Lippen aufeinander und biß die Zähne zusammen, bis sie schmerzten.
Sie sagte kein Wort, nickte nur bestätigend und ging hinaus. Man hatte die Halloween-Dekorationen abgenommen und die Korridore im Hinblick auf das nahe Erntedankfest mit Darstellungen von Pilgervätern und gerupften Truthähnen neu geschmückt. Jess holte nur ihren Mantel aus ihrem Büro und verabschiedete sich von ihren
Mitarbeitern, die, obwohl es bereits nach fünf war, Erstaunen darüber zeigten, daß sie so früh ging.
Sie wäre gern länger geblieben. An Arbeit mangelte es ihr nicht. Aber sie hatte keine Wahl. Sie hatte ihr Wort gegeben. Nach zehn Tagen ständiger Entschuldigungen: Ich kann wirklich nicht, ich kann vor Arbeit kaum aus den Augen schauen , hatte Jess schließlich dem Drängen ihrer Schwester nachgegeben, ein Treffen mit Sherry Hasek zu vereinbaren, der neuen Frau im Leben ihres Vaters. Um sieben zum Essen. Im Bistro 110 . Ja, ich komme. Ganz bestimmt.
Ihren Schwager und die neue Liebe ihres Vaters an einem Abend zusammen, ein bißchen viel auf einmal. »Genau das was ich brauche«, schimpfte Jess laut und sah mit Erleichterung, daß sie den Aufzug für sich hatte. »Das hat mir als Krönung dieses herrlichen Tages gerade noch gefehlt.«
Im nächsten Stockwerk hielt der Aufzug an, und eine Frau stieg ein, als Jess noch mitten im Satz war. Jess verzog ihren Mund rasch zu einem Gähnen.
»Sie hatten wohl einen langen Tag?« fragte die Frau, und Jess hätte beinahe gelacht.
Die Ereignisse des Tages liefen wie ein auf schnellen Vorlauf geschaltetes Video vor ihrem inneren Auge ab. Sie sah sich vor Richter Earl Harris stehen, Seite an Seite mit ihrem geschiedenen Mann, der im Namen seines Mandanten dessen Recht auf einen schnellen Prozeß über die ihm zur Last gelegte Vergewaltigung Connie DeVuonos geltend machte. »Aufgeschobene Gerechtigkeit ist verweigerte Gerechtigkeit«, erklärte er.
Sie sah Rick Fergusons spöttisches Grinsen, hörte ihre eigene schwache Entgegnung. »Euer Ehren, wir müssen einen Vertagungsantrag stellen, weil unsere Zeugin für eine Verhandlung am heutigen Tag nicht zur Verfügung steht.«
»Welchen Tag wünschen Sie?« fragte Richter Harris.
»Geben Sie uns eine Frist von dreißig Tagen«, bat Jess.
»Da haben wir bald Weihnachten«, erinnerte der Richter sie.
»Ja, Euer Ehren.«
»Gut, dreißig Tage.«
»Na, hoffen wir, daß die gute Frau in dreißig Tagen wieder auftaucht«, sagte Rick Ferguson und gab sich keine Mühe, das Lachen in seiner Stimme zu unterdrücken. »Ich hab keine Lust, immer wegen nichts und wieder nichts hier reinzufahren.«
Jess lehnte sich an die Aufzugwand, prustete verächtlich und tat so, als hätte sie einen Husten.
»Alles in Ordnung?« fragte die Frau neben ihr.
»Ja, danke«, antwortete Jess und erinnerte sich des späteren Ärgers mit der Autowerkstatt, zu der sie gleich am frühen Morgen ihren Wagen gebracht hatte. »Wieso können Sie mein Auto nicht bis heute
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