Scheherazade macht Geschichten
bevor er fortfuhr: »Komisch, aber ich fühle mich nicht so müde wie in den vergangenen Nächten. Nun, das beweist bloß die verjüngende Wirkung, die einer guten Geschichte innewohnt, nehme ich an.« Er winkte den Frauen freundlich zu, als diese sich bereitmachten zu gehen. »Bis heute abend dann.«
Er trat einen Schritt vor und stolperte fast über das Schwert, das am Boden lag. Verwundert blickte er auf die Waffe hinab und meinte dann mit wehmütiger Stimme: »Ich frage mich, ob es mir heute vielleicht gelingen wird, mir ein paar Stunden freizunehmen, um mit meinen Schwertern zu üben.«
Und dann geleitete man Scheherazade und Dunyazad aus den Gemächern des Königs und führte sie in ihre eigenen.
Als sie außer Hörweite des Königs waren, meinte Dunyazad: »Es schien, als würde er sich überhaupt nicht an sein Schlafwandeln erinnern.«
»Ja, von solchen Dingen habe ich schon gehört«, stimmte Scheherazade ihr zu. »Wenn man im Schlaf wandelt, ist das so, als ob man seine Träume auslebt. Ich spüre jedoch deutlich, daß in diesem Fall noch eine andere Macht am Werke ist. Ich glaube nicht, daß der König von sich aus handelte, sondern daß er unter fremdem Einfluß stand. Nein, er hat nicht seine Träume ausgelebt, sondern die eines anderen.«
»Unter fremdem Einfluß?« wunderte sich Dunyazad und erschauderte. »Aber wie kommst du darauf, daß er von den Träumen eines anderen beeinflußt wird?«
»Mir fiel auf«, entgegnete Scheherazade gedankenverloren, »wie er förmlich dazu gezwungen wurde, sein Schwert aufzuheben. Und ich könnte schwören, daß die Schwerter ein gefährliches Eigenleben besitzen. Ich glaube, sie sind verzaubert.«
Diese Enthüllung ließ Dunyazad endgültig verzweifeln. »O Schwester, wie können wir hoffen, einen solch bösen Zauber zu überwinden.«
»Bis jetzt«, sagte Scheherazade ganz bescheiden, »ist es mir immer noch geglückt, einen eigenen Zauber zu weben.«
Das beruhigte die jüngere Schwester sichtlich, und den Rest des Weges bis zu ihrem Harem legten sie in aller Stille zurück.
Alles war auch still, als sie in ihre Gemächer zurückkehrten. Nirgendwo war etwas von einer geheimnisvollen Frau in Schwarz zu sehen, noch warteten Geschenke, hinter denen finstere Absichten steckten, auf sie.
»Glaubst du, daß derjenige, der den Zauber über die Schwerter gewirkt hat, auch für all die anderen Schwierigkeiten verantwortlich ist, mit denen wir bisher zu kämpfen hatten?« fragte Dunyazad, als die beiden Frauen sich zum Schlafengehen fertig machten.
»Das kann man zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen«, antwortete Scheherazade, »aber ich nehme an, daß unser Feind im Verlaufe der Zeit schon noch etwas offener in Erscheinung treten wird. Doch stell jetzt keine weiteren Fragen mehr. Wenn wir unser Bestes geben wollen, müssen wir ausgeruht sein.«
Daraufhin ließen die beiden Frauen sich auf ihrem jeweiligen Lager nieder, und an diesem Morgen träumte Scheherazade von Hühnchen.
Scheherazade öffnete die Augen. Sie träumte nicht nur von Hühnchen. Sie hatte ein Hühnchen gehört, und zwar ganz in der Nähe.
»Ist da jemand?« rief sie in das schwach erleuchtete Zimmer hinein.
Aus der entlegensten Ecke des Gemachs hallte ihr eine Antwort entgegen: »Gaaaak!«
Dunyazad bewegte sich im Schlaf. »Hast du etwas gesagt, Schwester?«
»Still, Dunyazad«, flüsterte Scheherazade. »Da ist jemand in unserem Gemach.«
»Jemand in unserem Gemach?« Dunyazad war sofort hellwach. »Welch grauenerregende Kreatur mag das sein?«
»Um genau zu sein«, erwiderte Scheherazade ruhig und gelassen, »glaube ich, daß es ein Hühnchen ist.«
Wie aufs Stichwort erklang aus einem der entlegeneren Winkel des Raumes erneut der klagende Ruf.
»Gaaak!« Und wieder: »Gaaak!«
»Ein Huhn?« fragte Dunyazad. »Kann das wirklich sein?«
»Aber sicher doch«, meinte Scheherazade. »Ich glaube, wir erhalten soeben einen Besuch von dem Hühnchen.«
Die Rufe, die sie diesmal vernahmen, klangen weitaus erregter als zuvor.
»Gaaak! Gaaak! Gaaak gaaak!«
»Es scheint fast so, als ob das Huhn uns versteht«, wunderte sich Dunyazad.
»Das wundert mich nicht«, erwiderte Scheherazade, »denn ich nehme an, daß dieses Huhn früher einmal eine Dienerin war.«
Dunyazad erhob sich und begann, nach dem Hühnchen zu suchen. »Willst du damit sagen, daß sie verzaubert worden ist?«
»Auf dieselbe Art und Weise wie jene Menschen, die in der Geschichte von dem Händler und dem Dschinn in
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