Scheintot
mich. Während Regina selig an der Flasche nuckelte, ließ Jane sich auf den Küchenstuhl sinken und genoss diesen Moment der Stille, so kurz er auch sein mochte. Sie blickte auf die dunklen Haare ihrer Tochter hinunter. Lockig, genau wie meine, dachte sie. Einmal hatte Angela ihr in einem Anfall von Frustration an den Kopf geworfen: »Irgendwann kriegst du genau die Tochter, die du verdienst.« Und hier sitze ich nun, dachte sie, mit diesem unersättlichen kleinen Schreihals.
Der Stundenzeiger der Küchenuhr sprang auf drei.
Jane griff nach dem Stapel Akten, den ihr Detective Moore am Abend vorbeigebracht hatte. Sie hatte alles über die Morde von Ashburn gelesen; jetzt schlug sie eine neue Mappe auf und sah, dass es sich um eine Akte des Boston PD über Joseph Rokes Wagen handelte – über das Fahrzeug, das er ein paar Blocks von der Klinik entfernt abgestellt hatte. Sie fand mehrere Seiten mit Moores Notizen, Fotos vom Wageninneren, einen AFIS-Bericht über Fingerabdrücke und verschiedene Zeugenaussagen. Während sie dort in dem Wartezimmer gefangen gehalten wurde, waren ihre Kollegen nicht untätig gewesen. Sie hatten alles an Informationen über die Geiselnehmer zusammengekratzt, was sie finden konnten. Ich war nie allein, dachte sie; meine Freunde haben da draußen die ganze Zeit für mich gekämpft, und hier ist der Beweis.
Ihr Blick fiel auf die Unterschrift des Detectives unter einer der Zeugenaussagen, und sie lachte überrascht auf.
Mensch, sogar ihr alter Erzfeind Darren Crowe hatte sich ins Zeug gelegt, um sie zu retten – und warum auch nicht? Ohne sie hätte er ja niemanden mehr gehabt, den er beleidigen konnte.
Sie blätterte weiter zu den Fotos des Wageninneren, sah zerknüllte Erdnussriegelpapierchen und leere Red-Bull-Dosen. Jede Menge Zucker und Koffein – genau das Richtige, um die Nerven eines Psychotikers zu beruhigen. Auf dem Rücksitz lagen eine zusammengefaltete Decke, ein schmutziges Kopfkissen und eine Boulevardzeitung – die
Weekly Confidential.
Auf der Titelseite ein Foto von Melanie Griffith. Jane versuchte, sich Joe vorzustellen, wie er auf dem Rücksitz seines Wagens lag und in dem Heft blätterte, wie er sich die neuesten Nachrichten über Stars und Sternchen zu Gemüte führte, doch es wollte ihr nicht recht gelingen. War es wirklich denkbar, dass er sich dafür interessiert hatte, was die Verrückten in Hollywood trieben? Vielleicht war Joe sein eigenes Leben erträglicher vorgekommen, wenn er sich ihre verkorksten, verkoksten Existenzen angesehen hatte. Die
Weekly Confidential
als harmlose Zerstreuung für stressige Zeiten.
Sie legte die Akte des Boston PD zur Seite und griff nach der Mappe mit den Unterlagen zu den Ashburn-Morden. Wieder setzte sie sich den Tatortfotos der brutal abgeschlachteten Frauen aus. Wieder verweilte sie bei dem Foto von Nummer fünf. Urplötzlich konnte sie den Anblick von Blut und Tod nicht länger ertragen. Es überlief sie eiskalt, und rasch klappte sie die Mappe zu.
Regina war eingeschlafen.
Sie trug das Baby in sein Bettchen zurück, ging nach nebenan und schlüpfte wieder unter die Decke, doch obwohl die Laken von Gabriels Körper angenehm warm waren, konnte sie einfach nicht aufhören zu zittern. Sie brauchte den Schlaf so dringend, aber es gelang ihr nicht, das Chaos ihrer Gedanken zu besänftigen. Zu viele Bilder wirbelten ihr im Kopf herum. Zum ersten Mal begriff sie, was es bedeutete, wenn man zu müde zum Schlafen war. Sie hatte gehört, dass fortgesetzter Schlafmangel Psychosen auslösen konnte; vielleicht hatte sie die Schwelle ja schon überschritten, getrieben von den Albträumen und den ständigen Forderungen ihrer neugeborenen Tochter.
Ich muss dafür sorgen, dass diese Träume aufhören.
Gabriels Arm legte sich um sie. »Jane?«
»Hallo«, murmelte sie.
»Du zitterst ja. Ist dir kalt?«
»Ein bisschen.«
Er schloss sie fester in den Arm, zog sie an seinen warmen Körper heran. »Ist Regina aufgewacht?«
»Vor einer Weile. Ich habe sie schon gefüttert.«
»Ich wäre doch dran gewesen.«
»Ich war sowieso wach.«
»Warum?«
Sie gab keine Antwort.
»Es ist wieder dieser Traum. Nicht wahr?«, fragte er.
»Es ist, als ob sie mich verfolgt. Sie lässt mir einfach keine Ruhe. Jede verdammte Nacht raubt sie mir den Schlaf.«
»Olena ist tot, Jane.«
»Dann ist es ihr Geist.«
»Du glaubst doch gar nicht an Geister.«
»Ich habe nie daran geglaubt. Aber jetzt …«
»Hast du deine Meinung geändert?«
Sie drehte
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