Schenkel, Andrea M
Boden liegen Scherben. Scheißvieh, bin ich erschrocken!
Ich klappe das Messer zusammen, stecke es zurück in meine Hosentasche. Gehe über den Flur zur Wohnungstür. Sehe durch den Spion. Keiner im Hausflur. Ich verlasse die Wohnung.
Mir ist so langweilig. Ich gehe auf und ab, steige auf den Stuhl, betrachte Himmel und Baumwipfel, lege mich aufs Bett. Der Himmel verdunkelt sich immer mehr und es beginnt zu regnen. Der Regen prasselt laut auf das Dach. Ich höre, wie das Wasser über die Regenrinne an der Seitenwand des Hauses abfließt. Ich stelle mir vor, wie die einzelnen Tropfen auf die Schindeln fallen, von dort hinunterrinnen, sich sammeln, als kleines Rinnsal weiterlaufen, in die Regenrinne plätschern und in das Abflussrohr fließen. Sie stürzen am Haus hinab in die Regentonne. Ich liege auf dem Bett und folge in Gedanken jedem einzelnen Tropfen auf seinem Weg. Dach, Regenrinne, Abflussrohr. Immer wieder Dach, Regenrinne, Abflussrohr.
Und auf einmal bin ich in Gedanken wieder bei dem Foto und bei Joachim, wie er mir darauf entgegengrinst. Wer kannte ihn schon? Keiner. Unsere Stiefmutter ist vor Jahren gestorben. Das Foto habe ich damals, als ich ihre Wohnung ausräumen musste, mitgenommen. Das Foto und anderen sentimentalen Krimskrams. Freunde hatte Joachim keine. Keine richtigen zumindest. Immer ist er nur an meinem Rockzipfel gehangen. Die kleine Klette! Und mit Hans ist er immer herumgezogen, die beiden waren oft zusammen. Hans, der Dorftrottel. So was darf man heute eigentlich nicht mehr sagen, aber damals war das noch ganz normal. Jedes Dorf hatte seinen Idioten, ›das bringt Glück‹. Sein Gang, seine Sprache, alles war langsam an ihm. Er war zurückgeblieben. Angeblich hat er nicht einmal die Hilfsschule gepackt. Hans war unförmig, ein massiger Körper, klobige Hände, alles erschien mir damals riesig an ihm. Vielleicht auch, weil er immer viel zu kleine Sachen anhatte. Die Hose hatte Hochwasser. Die Hemdsärmel waren natürlich auch zu kurz. Darunter immer ein schmutziges Unterhemd. Überhaupt war waschen für ihn ein Fremdwort. Sein Körper war nicht missgestaltet, aber die alten abgetragenen Klamotten ließen ihn so komisch aussehen. Seine Eltern waren aus dem Osten. Weißrussen oder so. Ich habe keine Ahnung, es hat mich auch nie interessiert. Hans konnte auf alle Fälle kein richtiges Deutsch. Aber er wollte dazugehören und dafür tat er alles. Für uns war es immer ein riesiger Fetz. Wir haben ihn angestiftet, jeden Blödsinn zu machen.
Wie damals, als er für uns ein Schwein vom größten Bauern am Ort stehlen sollte. Das war wieder eine unserer Mutproben für ihn. Er selber wäre bestimmt nie auf die Idee gekommen, war viel zu arglos dafür. Wir mussten ihn nicht lange überreden, er wollte doch dazugehören. Hans war stark, so stark war keiner von uns. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er den Läufer gepackt hatte. Das Schwein wand sich wie wild hin und her. Mit seinen beiden Armen hatte Hans es fest im Schwitzkasten. Die Hinterläufe hingen herunter, behinderten Hans beim Laufen. Aber es war ihm egal. Er hat es nicht losgelassen, obwohl sich das Tier gewunden hat. Keiner von uns hätte es so packen und wegschaffen können. Nicht zu zweit oder zu dritt und alleine schon gar nicht. Teil der Mutprobe war es, es in den Brunnen zu werfen. Er schaffte es tatsächlich. Das Schwein hat geschrien vor Angst und wir haben gegrölt vor Lachen. Überallhin konnte man es hören. Das halbe Dorf war auf den Beinen. Die Freiwillige Feuerwehr hat es wieder herausgeholt. Und den Ärger, den hatte Hans dann allein. Er hätte ja nicht machen müssen, was wir ihm gesagt haben. Hätte Nein sagen sollen, er war halt ein richtiger Depp.
Von seinem Vater ist er danach verprügelt worden. Grün und blau hat er ihn geschlagen. Der hat ihn ständig geschlagen, fast täglich. Das war normal. Gewehrt hat sich Hans jedoch nie. Ist dagestanden und hat sich schlagen lassen.
In seinem Verhalten uns gegenüber war er manchmal unberechenbar, aufbrausend. Dann war nichts und niemand mehr sicher. Ein kleiner Funke, einmal in Rage und er ist los, hat alles niedergemäht, wie eine Dampfwalze.
Den Gerold hat er krankenhausreif geschlagen. Der Gerold, das Großmaul, der Angeber. Heute ist er bei der Sparkasse, macht ganz auf seriös. Passt zu ihm. Er war das Gegenteil von Hans, klein, flink wie ein Wiesel, ein richtiger Hansdampf und Spaßvogel. Und Stichler. Von uns allen hat er Hans immer am meisten zugesetzt.
Von Gerold
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