Schicksal in zarter Hand
weggelaufen – um nie wieder zurückzukommen.
Genauso gern hätte sie sich wie eine Furie auf die beiden gestürzt und Claudia an den Haaren von Franco weggezerrt – um ihm dann eine schallende Ohrfeige zu versetzen.
Ihr war egal, dass Claudia mindestens ebenso um ihren angebeteten großen Bruder Marco trauerte wie Franco um seinen alten Freund.
Es ist zwar verständlich, dass sie sich gegenseitig Trost spenden, aber mich macht es rasend, dachte Lexi und hatte das Gefühl, alles durch einen roten Schleier der Wut wahrzunehmen.
Wie war Claudia überhaupt in Francos Zimmer gekommen? Durfte sie sich hier etwa wie zu Hause fühlen und konnte ein- und ausgehen, wie es ihr passte?
Dann sah Lexi, wie Franco den Kopf hob und zu ihr schaute.
„Lexi!“, sagte er rau und wurde rot.
Aha, er fühlt sich auf frischer Tat ertappt, dachte sie und spürte, wie brennend heißer Hass sie durchflutete.
Auch Claudia hob den Kopf. Tränen glitzerten an den langen dichten Wimpern ihrer mandelförmigen, beinah schwarzen Augen.
Weint sie Krokodilstränen? überlegte Lexi kurz und schämte sich gleich darauf für diesen boshaften Gedanken. Aber sie hatte Claudia nun mal nie leiden können. Marcos Schwester war zwei Jahre älter als Lexi. Heute spielte das keine Rolle mehr, aber damals war ihr immer bewusst gewesen, dass die Italienerin viel mehr Weltgewandtheit und Stil besaß als sie selbst.
Claudia war auffallend schön, vor allem ihre dunklen Augen faszinierten jeden Mann. Nur besaß sie leider nicht das sonnige Temperament ihres stets gut gelaunten Bruders, sondern war hinterhältig, berechnend und besitzergreifend. Auch wenn es um Menschen ging, zum Beispiel Marco.
Und Franco.
„Oh, Lexi!“ Claudia stand langsam auf. „Dich hätte ich hier nicht erwartet!“
Klang das schockiert? Oder erschrocken? Vergiss nicht, sie hat vor Kurzem ihren Bruder verloren, ermahnte Lexi sich und versuchte, Mitgefühl für die andere aufzubringen. Schließlich war es verständlich, dass Claudia Trost bei Franco suchte.
Aber es fiel Lexi trotzdem unendlich schwer, zu Claudia zu gehen und ihr die Hand zu schütteln. „Meine aufrichtige Anteilnahme. Das mit Marco tut mir so leid.“
Lexi sah, wie Franco beim Namen seines Freunds das Gesicht schmerzlich verzog. Aber was soll ich tun? dachte sie und hatte das Gefühl, dass ihr statt eines mitfühlenden Herzens ein harter, kalter Stein in der Brust lag.
Wenn Claudia hier war, ließ es sich nicht vermeiden, Marco zu erwähnen. In ihrer Anwesenheit konnte Franco nicht länger so tun, als hätte es den Unfall nie gegeben. Oder als sei sie, Lexi, die einzige Person, die er bei sich haben wollte!
„Bitte erwähne seinen Namen nicht!“ Claudias wunderschöne Augen füllten sich erneut mit Tränen. „Ich weiß nicht, wie ich mit meinem Kummer fertigwerden soll! Am liebsten wäre ich auch tot.“
Insgeheim fragte Lexi sich, ob das nicht etwas übertrieben war, und ermahnte sich wieder, nicht so kaltherzig zu sein. Sie nahm eine Schachtel mit Papiertaschentüchern vom Nachttisch und reichte sie Claudia.
Diese tupfte sich behutsam die Tränen von den Wimpern. „Ich musste einfach kommen“, erklärte sie, sobald sie sich wieder etwas gefasst hatte. „Ich wusste doch, dass Franco sich mit Selbstvorwürfen quält. Ich musste ihm einfach sagen, dass wir ihm keine Schuld geben.“
Das war wirklich rücksichtsvoll und fürsorglich, fand Lexi, aber es war für Franco anscheinend nicht leicht zu ertragen. Er hatte die Augen wieder geschlossen, und die fürchterliche Blässe überzog sein Gesicht – wie immer, wenn Marco erwähnt wurde.
„Meine Eltern würden gern wissen, ob Franco am nächsten Dienstag gesund genug ist, um zu Marcos Begräbnis zu kommen“, fügte Claudia hinzu.
„Wir werden da sein“, versicherte Franco.
Dann redete er mit Claudia – in so schnellem Italienisch, dass Lexi nicht mehr mitkam. Claudia hingegen sank wieder vor ihm auf die Knie und legte ihm die Arme um den Nacken.
Lexi ging zum Fenster und tat so, als sei ihr das alles egal, bis Claudia sich endlich verabschiedete, wobei sie Franco kurz, aber innig küsste.
Es schockierte Lexi, dass sie Claudia noch immer von ganzem Herzen verabscheute. Hatte sich denn gar nichts verändert? Sie war doch inzwischen viel erwachsener geworden!
„Was passt dir nicht?“, erkundigte Franco sich ruhig, als sie wieder allein waren.
„Wie ist sie hier reingekommen?“, konterte sie.
„Claudia ist erst kurz vor dir bei mir
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