Schicksal!
sichtbar für jedermann. Unfähig, mich zu verstecken oder Zuflucht bei meinen übernatürlichen Fähigkeiten zu suchen. Vielmehr gleiche ich den Menschen, mit denen ich diese Stadt teile, als dem Unsterblichen, der ich bin.
Ich schlendere die Fifth Avenue entlang und durch den Central Park, schlängele mich durch Midtown und den Theater District, ehe ich dem Broadway nach Lower Manhattan folge und schließlich haltmache, als ich Battery Park erreiche. Dort setze ich mich hin und schaue zu, wie sich die Sonne über Brooklyn erhebt und sich graue Wolken über den Himmel schieben, die Regen versprechen.
Ich habe mich noch nie so gefühlt. Ungeschützt. Verletzlich. Und außerdem friere ich mir den Arsch ab. Mir ist nie aufgefallen, wie kalt es im Dezember in New York wird, da ich ja die meiste Zeit unsichtbar bin. Wenn du unsichtbar bist, erzeugt dein Menschenanzug genug Körperwärme, um dich selbst in einem Blizzard warm zu halten, während du nackt durch den Central Park streifst. Und glaubt ja nicht, wir würden es nicht genießen, das zu tun, wann immer wir die Gelegenheit dazu haben.
Aber jetzt ist mir einfach nur kalt. Mir ist kalt, und ich habe Angst. Ich weiß nicht, was mit mir geschehen wird – mit meiner Beziehung zu Sara oder mit all den Menschen, denen ich doch bloß helfen wollte. Ich weiß nur, dass ich ein warmes Bett und Thermounterwäsche brauche.
Auf dem Heimweg halte ich kurz an, um nach ein paar meiner Menschen zu schauen; nach denjenigen, deren Schicksale ich in den letzten paar Monaten beeinflusst habe. Und ich muss feststellen, dass die Diashow, die Jerry mir geboten hat, nur eine kleine Kostprobe der Konsequenzen meiner Überheblichkeit gewesen ist.
Die Obdachlose mit der bipolaren Störung, die mit sich selbst in der Nähe des Flatiron Buildings gestritten hat.
Tot.
Der schizophrene Straßenmusiker, der vor dem Madison Square Garden Banjo gespielt hat.
Tot.
Die zwangsneurotische Bettlerin, die Kaugummipapier gesammelt und im Central Park gelebt hat.
Tot.
Vollzeit-Versager und Teilzeit-Soziopathen. Perverse und Konzernsklaven. Drogenabhängige und zwanghafte Shopper.
Alle tot.
Mehr als ein Dutzend meiner Menschen – einige durch mich auf dem Pfad der Bestimmung, andere kämpften noch weiterhin auf meinem Pfad. Und keiner von ihnen hat auch nur seinen nächsten Geburtstag erlebt.
Das Universum korrigiert sich selbst? Von wegen.
Ich weiß nicht, weshalb ich gedacht habe, dass ausgerechnet
Karma
wüsste, wovon er spricht. Ich hätte es besser wissen sollen. Ich hätte nie jemandem glauben dürfen, der in seiner Abschlussprüfung geschummelt und regelmäßig geschwänzt hat.
So hatte ich mir mein eigenes Schicksal nicht ausgemalt. Ohne meine Kräfte. Verantwortlich für den Tod von nahezu zwei Dutzend Menschen. Durch Manhattan wandernd, während ich mir den Menschenanzug abfriere. Um es noch schlimmer zu machen, entscheidet sich der graue Himmel Manhattans, sein Versprechen einzulösen. Es beginnt zu regnen.
In Zeiten wie diesen wünsche ich mir, ich hätte mir praktischere Accessoires für meinen neuen Menschenanzug bestellt. Wasserabweisende Haut oder selbsttrocknendes Haar. Ein Waschbrettbauch und selbst enthaarende Genitalien sind keine große Hilfe, wenn man keinen Regenschirm hat.
Ich brauche etwas zu trinken.
Ich bin noch mehr als zwanzig Blocks von zu Hause entfernt und wähle deshalb die nächste Bar: Iggy’s, eine lässige Kellerbar in der Upper East Side, in der es immer nach abgestandenem Bier stinkt. Ich betrete den Laden durch den engen Vaginalkanal von einem Eingang. Im Innern besteht die eine Wand aus Ziegelsteinen und die andere aus Bar. Dahinter öffnet sich das Iggy’s in einen Raum mit Tischen, Stühlen und einer Karaokemaschine.
Obwohl das Interieur nicht viel hermacht, ist das Iggy’s fast jede Nacht in der Woche einer der heißesten Treffpunkte für Karaoke. Kurz nach Mittag hingegen kommt die einzige Musik weit und breit aus der Jukebox. Johnny Cash singt
God’s Gonna Cut You Down.
Ich denke, dass ich vielleicht das Lokal wechseln sollte.
Außerdem sind die einzigen Gäste, die an der Bar sitzen,
Ego, Langeweile
und
Schuld.
»Sergio!«, ruft
Ego.
»Sieht aus, als hättest du ein bisschen zugelegt.«
Langeweile
nickt halbherzig und nippt an seinem Budweiser, während
Schuld
mir ein hilfloses Lächeln zuwirft und seinen Scotch leert.
Wieso konnte ich nicht
Humor, Lachen
und
Freude
begegnen?
Ich bestelle einen Whiskey mit Cola und kippe ihn
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