Schicksalsbund
er nicht mitgeschickt wurde, um zu spionieren. Du kannst noch nicht einmal mit Sicherheit sagen, dass er nicht dazu ausgebildet wurde, hinterhältig zu morden.«
»Er ist zu jung dafür. Er wirkt so knabenhaft.«
Mack drehte mit einem Ruck ihren Stuhl so, dass sie sich Javier gegenübersah. »Sieh ganz genau hin, Jaimie. Wie zum Teufel wirkt Javier auf dich?«
»Das ist nicht dasselbe. Javier ist kein hinterhältiger Mörder …«
»Es ist genau dasselbe. Er sieht aus wie ein Junge, und er ist zum Meuchelmörder ausgebildet, ja, genau dazu und zu nichts anderem. Das gilt auch für meine Ausbildung. Es gilt für uns alle. Ist es nicht genau das, was dir an mir am meisten verhasst war?«
Sie ließ sich Zeit; ihr Blick glitt über ihn, und in den Tiefen ihrer Augen sah er Traurigkeit. »Ich hasse dich nicht, Mack. Ich könnte dich niemals hassen. Ich kann dich nur einfach nicht verstehen.« Sie fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und wandte sich von ihm ab, doch hatte er die Tränen in ihren Augen schimmern sehen. »Lass mich in Ruhe die Dokumente lesen, Mack. Es ist zwecklos, Spekulationen anzustellen.«
Javier sah ihn finster an und kehrte ihm den Rücken zu, um Jaimie zu helfen. Macks Hände waren zu Fäusten geballt, als er sich von den beiden entfernte. Was zum Teufel erwartete sie von ihm – dass er sie belog? Verdammt nochmal, er mochte den Jungen, aber er würde ihn wesentlich weniger mögen, wenn Kane mit aufgeschlitzter Kehle gefunden wurde oder wenn Brian unter der Dusche »versehentlich« ausrutschte. Seine
Aufgabe war es, seine Männer zu beschützen. Das bedeutete, dass er Entscheidungen treffen musste, die ihm schwerfielen und die kein anderer treffen wollte.
Stille legte sich über den Raum, während die beiden begannen, sich Pauls private Post vorzunehmen. Mack hielt sich abseits im Schatten, ein gutes Stück von dem Licht entfernt, das auf die Computer fiel. Es war nicht einfach, sich gegen die denkbar schlechtesten Neuigkeiten zu wappnen. Es mochte zwar sein, dass Paul Javier äußerlich ähnelte, aber ihre Persönlichkeiten ähnelten einander nicht. Javier war reizbar und gefährlich, ein Mann, der die kleinste Bedrohung ernst nahm. Paul schien ein Junge zu sein, der einen Ort suchte, an dem er sich heimisch einrichten konnte. Er wirkte eher wie Jaimie, innerlich weich und von dem Wunsch nach einem Zuhause und einer Familie erfüllt, nicht zum Kampf gerüstet.
Der Junge hatte sich ihnen vor Wochen angeschlossen, und jedes Mitglied seines Teams wachte unbewusst über ihn. Sie wollten ihn nicht, weil er ein schwaches Glied zu sein schien, und schwache Glieder kosteten einen das Leben. Mack zog die Stirn in Falten, als er über Paul nachdachte. Es lag nicht daran, dass Paul in Panik geriet. Er hatte die Nerven, die man fürs Gefecht brauchte. Er war still und zuverlässig. Er wirkte nur so … jung. Und doch war er älter als Jaimie. War er als Spion eingeschleust worden und machte seine Sache sehr gut? Mack zog sich der Magen zusammen. Wenn das so weiterging, würde er ein teuflisches Magengeschwür bekommen.
»Nur mal aus reiner Neugier, Jaimie«, sagte Javier, und seine Stimme war gesenkt und klang beiläufig. »Lass uns das als eine rein intellektuelle Diskussion betrachten.
Wenn der Junge tatsächlich ein Mörder ist, der mitgeschickt wurde, um zu spionieren und/oder bestimmte Angehörige unseres Teams zu töten, wie gehen wir dann mit dieser Situation am besten um?«
Jaimie warf einen Blick auf ihn. Javier äußerte im Gespräch nicht allzu oft seine Meinung. Wenn er es doch tat, hörten die anderen aufmerksam zu, weil er im Allgemeinen einen lohnenden Gesprächsbeitrag lieferte. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass seine Bemerkung nicht beiläufig war.
»Wir übergeben ihn den Behörden.«
»Und welche Behörden wären das, Jaimie? Übergeben wir ihn dem Sergeant Major, den ihr beide, du und Mack, offenbar verdächtigt, Böses im Schilde zu führen? Den Verdacht hatte ich übrigens auch bei dem letzten Einsatz, als Kane und Brian in einen Feuersturm geraten sind. Jemand hat sie in diese Falle gelockt. Wenn Mack nicht den Verdacht gehabt hätte, da stimmte etwas nicht, wären sie beide tot.«
Sie biss sich auf die Unterlippe. »Nein, nicht dem Sergeant Major.«
»Seinem Vorgesetzten? Dem Nächsthöheren in der Befehlskette? Colonel Wilford? War er nicht derjenige, dem der Sergeant Major die Beweise übergeben hat?«, hakte Javier nach.
»Ich weiß es nicht.
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