Schicksalsfäden
»das hat doch gezeigt was für eine Art von Frau Sie sind.«
Vivien war so überrascht, dass sie zuerst gar nicht verstand, was er sagte. Dann dämmerte es ihr und sie wurde von Scham und Wut überwältigt. »Verschwinden Sie, lassen Sie mich in Ruhe!«, spuckte sie ihm entgegen, während sie sich heftig von ihm abwandte.
Grant stand auf und ließ die so Gedemütigte als zusammengekrümmtes Häufchen Elend auf dem Bett zurück.
Als Grant die Treppe hinunterging, fühlte er sich fast körperlos, so erfüllt war er von widerstreitenden Gefühlen.
Immer wieder murmelte er ihren Namen. »Vivien.« Und es klang wie eine Beschwörung und ein Fluch zugleich.
Die Weltlichkeit der Bibliothek brachte ihn auf den Boden der Tatsachen zurück. Der Raum war beherrscht von den erdigen Farbtönen der Ledersessel und speziell angefertigten Eichenregale. Büchersammeln war seine Leidenschaft, und fast alles, was zwei Buchdeckel hatte, war ihm gut genug. Auf den Tischen stapelten sich Zeitungen und Magazine. Mrs. Buttons sah in all dem nichts als einen möglichen Brandherd.
In den wenigen Momenten der Ruhe, die Grant in seinem Leben hatte, nahm er immer ein Buch zur Hand. Wenn er nicht arbeitete oder schlief, las er. Hauptsache, er konnte die Vergangenheit verdrängen. Und in den schlaflosen Nächten voll von düsteren Gedanken und quälendem Bedauern saß er in der Bibliothek, trank Brandy und schmökerte, bis die Buchstaben vor seinen Augen verschwammen. Nun brauchte Grant Abwechslung, etwas, das die Gedanken an Vivien vertrieb. Er stand vor den Regalen, öffnete die Glastüren und fuhr mit den Fingern die Buchrücken entlang. Doch schon die Berührung des rauen Leders schreckte ihn heute ab. Noch zu frisch war die Erinnerung an die zarte Haut dieser rätselhaften Frau, zu groß der Unterschied zwischen dem warmen, lebendigen Fleisch und der toten rissigen Tierhaut. Sein Gesicht spiegelte sich in der Glastür des Bücherregals, der Blick starr und unglücklich.
Mit einem Stöhnen wandte sich Grant von seinem Spiegelbild ab und ging zu einem Sideboard, das neben einem Weinregal stand. Er kniete sich nieder, öffnete eine Tür und suchte etwas. Augenblicke später hatte er es gefunden; er zog eine Flasche Brandy heraus, in der dunkle Flüssigkeit schwappte. Noch während er sich wieder aufrichtete, entkorkte er die Flasche und setzte sie an die Lippen. Heute brauchte er kein Glas. Den Kopf in den Nacken geworfen, ließ er die scharfe, ölige Flüssigkeit die Kehle herunterlaufen, wartete er auf dieses beruhigende warme Gefühl, das er in solchen Momenten suchte. Aber da war nur Leere.
Es gelang ihm nicht Vivien aus seinen Gedanken zu vertreiben. Ihr süßer Mund, ihre Unschuld und Kindlichkeit ließen ihm keine Ruhe. Was er danach gesagt hatte, erschien ihm selbst unglaubwürdig, denn sie hatte ihn geküsst wie eine neugierige Schülerin der Liebe, nicht wie eine professionelle Dienerin der Lust. Was war Wahrheit was Einbildung?
»Unschuld, pah!«, murmelte er und setzte die Brandyflasche erneut an. Viviens Getue bewies doch nur ihre Durchtriebenheit. Sie war eine Hure, daran gab es nichts zu deuteln. Sie beschützen, begehren, gar lieben? Einfach idiotisch.
Grant ließ sich in einen Ledersessel fallen und legte die Füße auf eine Tischkante. Wenn er dieser Frau nicht vollkommen verfallen und dabei durchdrehen wollte, musste er herausfinden, wer und was Vivien war. Als er ihr gesagt hatte, sie sei eine Prostituierte, hatte sie genau die richtige Mischung aus Verwirrung, Verletzung und Wut gezeigt. Aber hieß das, dass sie eine unschuldige Frau war? In schwierigen Fällen wie diesen konnte sich Grant normaler weise immer auf seinen Instinkt verlassen. Doch auch der ließ ihn bei Vivien im Stich. Sie war einfach eine zu gute Schauspielerin. Aber was sie auch gerade für eine Rolle spielen mochte, sie konnte sie nicht für immer durchhalten, sie würde früher oder später ihren wahren Charakter zeigen müssen. Und bis dahin musste Grant sie einfach auf Distanz halten.
Wenn das so verdammt einfach wäre, dachte Grant und nahm noch einen kräftigen Schluck.
Kapitel 5
Auch Vivien war zutiefst aufgewühlt. Sie lag ängstlich zusammengerollt in einer Ecke des großen Bettes und grübelte über das, was geschehen war, bis ihre Gedanken verschwammen und sie in einen ohnmachtähnlichen Schlummer fiel. Doch der Schlaf voller bizarrer und dunkler Traumbilder brachte keine Erholung.
Sie träumte, sie würde durch eine Straße
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