Schief gewickelt (German Edition)
mehr sich mein Notizbuch füllt, umso zuversichtlicher werde ich. Hier irgendwo zwischen den Gehwegplatten, Kopfsteinen, Schlaglöchern, Glasscherben und Hundehaufen liegt die Ideallinie versteckt, und wir sind auf dem besten Wege, sie ans Licht zu holen.
Ich habe den Veteranenstraßenbürgersteig für unsere Analyse in fünf Streckenabschnitte unterteilt: von der Weinerei bis zu Frau Tulpes Stoffladen, von Frau Tulpes Stoffladen bis zum Acud, vom Acud bis zum Bergstübl, vom Bergstübl bis zu Taebs Bistro und von Taebs Bistro bis zur Brunnenstraße. Der wichtigste Abschnitt ist natürlich der erste. Wenn du da nicht genügend Anfangstempo aufnimmst, kannst du gleich duschen gehen. Wenn das aber gut geklappt hat, kann man erst mal nicht mehr viel falsch machen. Wichtig nur: Baugerüst vor Hausnummer 16 links umfahren und auf keinen Fall versuchen, drunterdurch abzukürzen. Richtig schwierig wird es erst wieder gegen Ende, wenn du durch die Außenbestuhlung vom Bergstübl und von der Magnetbar musst. Trotzdem, wir sollten auch die weniger anspruchsvollen Abschnitte testen. Die gesparten Zehntelsekunden läppern sich am Ende zusammen.
»Bin ich schnell gefahrt?«
»Wie ein Blitz, Daniel. So, und jetzt als Nächstes bitte einmal von hier aus bis zu dem roten Auto da vorne, okay?«
»Okeh.«
Wieder rollt mein kleiner Testpilot. Ich hoffe nur, dass die Ergebnisse trotz des eklatanten Gewichtsunterschieds zwischen uns beiden brauchbar sind.
Verflixt, warum ruft Walter nicht zurück?
8,5 Sekunden. Ouh, das muss schneller gehn.
»Gut gemacht, Daniel. Aber jetzt noch mal. Diesmal startest du hier und, jetzt pass genau auf, wenn du an der kaputten grünen Flasche vorbeikommst, lenkst du ein bisschen nach …«
Klingeling, klingeling!
Na also.
»Hallo Walter, warum rufst du von Simones Handy aus an?«
»Ich bin Simone.«
»Oh … tschuldigung! Ich war gerade so ein bisschen auf Walter … Ich meine, er soll …«
»Ich hab nicht viel Zeit. Pass auf, Markus, du weißt, meine Eltern fahren zu diesem Feldenkrais-Seminar nach Sankt Petersburg. Sie haben gerade angerufen. Sie übernachten heute Abend auf der Durchreise in Berlin und würden uns gerne kurz besuchen. Kannst du bitte noch bisschen was einkaufen und die Wohnung einigermaßen aufräumen?«
»Äh ja, geht klar. Sag mal, da fällt mir ein, dein Vater fährt doch seit seiner Pensionierung Motorrad. Meinst du nicht, er könnte … Also, weil ich habe gedacht, Biker-Walter … Aber der ruft nicht zurück, und …«
»Papa kann dir keinen Helm mitbringen. Die beiden sind schon längst unterwegs.«
»Dreck, irgendwie glaub ich, das ist heut nicht mein Tag.«
»Wenn du Walter nicht kriegst, probier’s doch mal im Elisabethkrankenhaus.«
»Du bist wirklich ein Genie.«
*
Der Gips ist an einem Seil aufgehängt und wiegt schätzungsweise doppelt so viel wie Daniel in Winterklamotten.
»Na, Hauptsache, es kommt wieder in Ordnung.«
»Jaja, mach dir nicht ins Hemd, Markus. Ist wirklich nur der Arm. Aber dieser Drecksack von Chefarzt will mich noch zwei Tage hier behalten. Scheiß private Krankenversicherung.«
»Du armer Kerl.«
»Weißt du, was der Witz an der ganzen Sache ist? Also, ich war unterwegs zu Bert und musstn bisschen Gas geben, weil ich spät dran war. Dann Pappelallee, Speditionslaster, mir die Vorfahrt genommen – und plötzlich ging für mich irgendwie alles wie in Zeitlupe. Harter Aufprall, ich flieg hoch und, ob dus glaubst oder nicht, ich les beim Fliegen erst mal so richtig in aller Ruhe, was da draufsteht auf der Karre. Kann mich noch genau erinnern: Volvo, Spedition Mordhorst und Bruno . Danach gings mittemang durch die Scheibe, Kopf nach vorne, und ich knalle direkt mit dem Dez vom Fahrer zusammen. Na ja, hatn harten Schädel, der Bruno, aber er natürlich, im Gegensatz zu mir, ohne Helm. War bestimmt die Kopfnuss seines Lebens. Jungejunge, arme Sau. Möchte nicht mit ihm tauschen. Amnesie. Faselt die ganze Zeit was von einem kleinen Jungen mit Laufrad und glaubt felsenfest, dass dem sein Papa durch die Scheibe gesprungen ist und ihm eine verpasst hat … Aber sag mal, wie hast du mich überhaupt hier gefunden?«
»War nur so eine Ahnung.«
*
Perfekt. Ich habe Walters Wohnungsschlüssel, und Daniel schläft im Kinderwagen. Walters Wohnung liegt stufenfrei im Erdgeschoss. Walter wohnt immer im Erdgeschoss. Wegen der Nähe zur Maschine. Ich schließe auf und schiebe den Kinderwagen vorsichtig über die Schwelle.
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