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Schiffsmeldungen

Titel: Schiffsmeldungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
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einen Strom teakholzfarbenen Pekoe in seine Tasse.
    »Ist dir Jacks unheimlicher Sinn für Aufträge aufgefallen? Er gibt dir ein Gebiet, das mit deinen persönlichen, tiefsten Ängsten zu tun hat. Schau dir deinen Fall an. Deine Frau kam bei einem Autounfall um. Worüber sollst du berichten? Über Autounfälle, sollst Bilder machen, wenn die Polster noch brennen und das Blut noch warm ist. Er überträgt Billy, der aus unbekannten Gründen nie geheiratet hat, die Familien-seite, die Frauenseite, die Feinheiten von ›Heim und Herd‹ – muß für den alten Mann ausgesucht schmerzlich sein. Und ich. Ich muß die elenden sexuellen Übergriffe abdecken. Und mit jedem Fall erlebe ich meine Kindheit nach. Ich wurde in der Schule drei Jahre lang mißbraucht. Erst von einem jämmerlichen Geometrielehrer, dann von älteren Jungen, die seine Kumpane waren. Bis zum heutigen Tag kann ich nicht schlafen, ohne mich wie eine Mumie in fünf oder sechs Decken zu wickeln. Und was ich nicht weiß, ist, ob Jack begreift, was er tut, ob der Schmerz durch wiederholte Konfrontation nachlassen und betäubt werden soll, oder ob er einfach bleibt, so frisch wie am Tag des ersten persönlichen Erlebens. Ich würde sagen, er bleibt.«
    Quoyle bat um mehr Brötchen, zupfte an dem Teebeutel auf seiner Untertasse herum. Würden die Brötchen reichen?
    »Macht er mit sich nicht dasselbe? Fährt aufs Meer hinaus, das seinen Vater und Großvater geholt hat, zwei Brüder, den ältesten Sohn und den jüngsten fast auch? Es betäubt ihn, den Schmerz, meine ich. Es betäubt ihn, weil du siehst, daß deine Lage nicht einzigartig ist, daß andere Leute genauso leiden wie du. Es muß was an dem alten Sprichwort dran sein, daß geteiltes Leid halbes Leid ist. Daß es sich leichter stirbt, wenn die anderen um einen herum sterben. Fröhliche Gedanken, was, Quoyle? Trink noch einen Schluck Tee und hör auf, an diesem ekligen Beutel rumzudrücken. Hast du gesehen, was Tert Card heute morgen hinten an seiner Hose kleben hatte?«
    Aber Quoyle entschloß sich zu zwei Stück Rebhuhnbeeren-kuchen mit Vanilleeis.
     
    Um vier Uhr fuhr er los, um Wavey abzuholen.
    Das kalte Wetter rückte von Norden her vor, Regen wurde zu Schneeregen, Schneeregen zu Schnee, Nebelschwaden wurden zu Wolken aus stecknadelkopfgroßen Kristallen, und Quoyle steckte in einem verwickelten Tagesablauf. Morgens lieferte er Sunshine bei Beety ab, brachte Bunny zur Schule, nahm Wavey mit. Um vier machte er es umgekehrt. MANN SPIELT CHAUFFEUR. Tee in Waveys verrückter Küche, wenn er für den Tag fertig war. Wenn er bis spät arbeiten mußte, blieben sie manchmal bei ihr. Sie schnitt Quoyle die Haare. Er stapelte sonntagmorgens ihr Holz. Vernünftig, daß sie ab und zu gemeinsam aßen. Näher und näher. Wie zwei Enten, die erst auf verschiedenen Seiten des Wassers schwimmen, aber in der Mitte enden, beisammen. Es dauerte lange.
    »Dafür gibt’s keinen Grund«, flüsterte Mrs. Mavis Bangs Dawn zu. »Hin und her zu fahren und sie mitzunehmen. Die Kinder könnten mit dem Schulbus fahren. Der Schulbus würd’ das Mädel bei der Zeitung rauslassen. Sie könnte Zeitungen aufräumen, während Agnis’ Neffe seine Arbeit fertigmacht. Was immer er da tut. Schreibt Sachen auf. Scheint keine allzu schwere Arbeit für ’nen Mann zu sein. Und Mrs. Herold Prowse braucht bei dem Wetter nich’ den ganzen Weg zu laufen. Sie hat ihre Netze nach ihm ausgelegt.«
    »Ich dachte, es ist umgekehrt. Er sucht so verzweifelt nach jemandem, der sich um diese Gören kümmert und das Kochen übernimmt. Und das andere, wenn Sie wissen, was ich meine. So groß, wie er ist, ist er doch wie am Verhungern.«
     
    In Waveys Küche stand am Fenster ein Arbeitstisch, wo sie die Mini-Dorys, die ihr Vater schnitzte, gelb anmalte. Mit einem kleinen Aufkleber auf jedem: Schnitzereien aus Flour Sack Cove. Sie schmirgelte und bemalte Serviettenhalter in Form von Labradorretrievern, Holzschmetterlinge, die Touristen außen an ihre Häuser nageln konnten, Seemöwen, die auf einem einzigen Dübelbein standen. Ken brachte sie zu den Andenkenläden entlang der Küste. In Kommission, aber sie verkauften sich recht gut.
    »Ich weiß, es sind bloß Sachen für Touristen«, sagte sie, »aber so schlecht sind sie nicht. Anständige Arbeit, von der man einigermaßen leben kann.«
    Quoyle strich mit den Fingern über die sorgfältigen Gelenke und die glasige Lasur. Und sagte, er finde sie schön.
    Das kleine Haus war voller Farben, als

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