Schindlers Liste
war noch gar nicht bekanntgemacht worden, was mit den Ausgesonderten geschehen sollte, doch wußten alle, daß die Selektierten in den Tod gehen mußten. Zwischen den beiden Gruppen flogen immer wieder Zurufe hin und her.
Henry Rosner, in Angst um seinen Sohn Olek, der im Lager versteckt war, hörte einen jungen SS-Mann mit Tränen in den Augen verfluchen, was hier geschah, und schwören, er wolle sich an die Front versetzen lassen. Schließlich wurde gedroht, wahllos in die Menge schießen zu lassen. Das wäre Göth womöglich ganz recht gewesen, hätte er auf diese Weise doch mehr Platz im Lager bekommen. Denn die Gesundheitsaktion hatte in seinen Augen ein mageres Ergebnis - 1400 Erwachsene und 268 Kinder standen schließlich am östlichen Rand des Appellplatzes versammelt, fertig zum Transport nach Auschwitz. Pemper merkte sich die Zahl. Es waren längst nicht so viele, wie Göth gehofft hatte, doch konnte er nun einen Teil der Ungarn aufnehmen.
Die Kinder waren wie gesagt großenteils nicht registriert; viele waren schon am vergangenen Sonntag versteckt worden und blieben auch an diesem Tag in ihren Verstecken. Andernfalls wären sie unweigerlich der für Auschwitz bestimmten Gruppe zugeteilt worden. Olek Rosner verbarg sich im Dachgebälk einer Baracke zusammen mit zwei anderen Kindern. Sie verhielten sich dort mucksmäuschenstill. Hier verbargen die Barackenbewohner ihre kleinen Kostbarkeiten, denn da waren sie am sichersten; SS und Ukrainer krochen da oben nicht gern herum, sie fürchteten, sich mit Typhus zu infizieren, denn da lag zuviel Schmutz, es gab Ratten, und Läuse waren berüchtigte Typhusüberträger. Eine Typhusbaracke stand nahe dem Männerlager, und in der hausten schon seit Monaten einige Lagerkinder.
Die Gesundheitsaktion war allerdings für die Kinder wesentlich gefährlicher als die mögliche Ansteckung mit Typhus. Manche verkrochen sich unter den Baracken, manche in der Wäscherei, wieder andere in einem Schuppen hinter der Garage. Viele dieser Verstecke waren an einem der beiden Sonntage entdeckt worden. Wieder andere Kinder wurden von ihren Eltern mit auf den Appellplatz genommen in der Hoffnung, der eine oder andere ihnen wohlgesonnene Unterführer würde sie schützen. Zu Recht hatte Himmler sich darüber beklagt, daß auch die bewährtesten SS-Männer ihre Schützlinge unter den Kindern hatten, als ob der Appellplatz ein Schulhof wäre! Jedenfalls glaubten manche Eltern, für ihre Kinder nichts befürchten zu müssen. Ein dreizehnjähriger elternloser Junge fühlte sich geschützt, weiler normalerweise beim Zählappell für einen Erwachsenen durchging; ohne Kleider allerdings erkannte man ihn als Kind, und er wurde der Kindergruppe zugewiesen. In der allgemeinen Aufregung gelang es ihm jedoch, sich wieder zwischen die Männer zu mischen, und nach einer Weile bat er einen Aufseher, zur Latrine gehen zu dürfen.
Die Latrinen lagen jenseits des Männerlagers. Der Junge kletterte über den Balken, auf den man sich normalerweise setzte, und ließ sich in die Grube hinunter, ganz darauf bedacht, mit Zehen und Fingerspitzen Halt an der Grubenwand zu finden. Es stank grauenhaft, und Fliegen setzten sich ihm aufs Gesicht. Zu seiner maßlosen Verwunderung hörte er Stimmen aus der Grube: » Sind sie hinter dir her?« und »Vorsicht da, das ist unser Platz.« Außer ihm hatten sich noch weitere zehn Kinder in der Latrine versteckt.
Der Bericht, den Göth abfaßte, enthielt das Wort Sonderbehandlung, ein Terminus, der später berühmt werden sollte, den Pemper aber zum ersten Mal las. Dem flüchtigen Leser mochte es scheinen, als sei damit etwas Medizinisches gemeint, Pemper ließ sich aber nicht täuschen.
Diese Medizin kannte er bereits zu gut.
Das Telegramm, das Göth nach Auschwitz schickte, ließ schon mehr ahnen. Göth teilte mit, um Fluchtgefahr zu verringern, lasse er die zur Sonderbehandlung vorgesehenen Gefangenen gänzlich mit Häftlingskleidung versehen, sie hätten alle noch in ihrem Besitz befindlichen zivilen Kleidungsstücke abzugeben. Mit Rücksicht auf den herrschenden Mangel an Häftlingskleidung bitte er aber darum, nach Vollzug der Sonderbehandlung diese Sachen umgehend von Auschwitz nach Plaszow zurückzusenden.
Die Kinder, die in Plaszow zurückblieben, wurden bei späteren Durchsuchungen allesamt gefunden und auf der Ostbahn 60 Kilometer weiter transportiert, nach Auschwitz. Die Viehwagen waren den ganzen Sommer über unterwegs, schafften Truppen und Nachschub an
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