Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)
Ein Mensch war durch ihre Hand gestorben. Das war etwas Großes, Schlimmes. Sie spürte, es würde sie verändern. Doch vorerst wollte sie das beiseiteschieben.
»Ja, er ist tot«, sagte sie. »Und das ist furchtbar.«
Jakob blickte auf. Seine wasserblauen Augen wirkten tief und unergründlich. »Wir sind geflohen. Durch den Wald.« Da war so etwas wie ein Lächeln. »Wir sind entkommen. Weil wir schneller waren.«
»Ja.« Sanna lächelte zurück. »Wir waren schneller.«
In diesem Moment war die junge Polizistin zurückgekehrt und ihr Gespräch war beendet gewesen. Sanna konnte nur hoffen, dass Jakob die Nacht in der Zelle und die Befragung durch die Polizisten gut überstehen würde.
»Liebes, nimm erst mal einen Schluck, dann geht es dir besser.«
Tante Renate stand mit einer Flasche Weißwein vor ihr. Sie goss großzügig ein und reichte Sanna das Glas. Dann leerte sie ihr eigenes Glas in einem Zug und schenkte sofort wieder nach. Irgendwie schaffte sie es, dabei geziert zu wirken.
»Was ist mit Aron?«, fragte Sanna.
»Der schläft bei einem Nachbarjungen. Ich dachte, das ist das Beste.« Sie ließ sich neben sie auf die Couch sinken. »Er reagiert sensibel, auch wenn er das nicht gerne hört. Er wäre am liebsten schon ein Mann, aber manchmal ist er noch ein kleiner Junge. Er wäre uns nicht mehr von der Pelle gerückt. Er hätte nämlich sofort gespürt, das irgendetwas los ist. Es ist besser so, glaub mir. Er soll sich keine Sorgen machen. Er soll Fußball spielen und Spaß haben.«
Sanna ließ sich ins Polster sinken. Sie nahm einen Schluck Wein. Der Alkohol brannte angenehm im Rachen. Sie schloss die Augen.
»Und jetzt erzähl mir in allen Einzelheiten, was passiert ist«, sagte Tante Renate. »Diese Monster haben dir doch nichts angetan, oder, mein Schatz?«
Sanna fühlte sich plötzlich furchtbar erschöpft. Sie wollte nur noch schlafen und diesen grauenhaften Tag hinter sich lassen. Aber das ging natürlich nicht. Ihre Tante hatte sich Sorgen gemacht. Sie wollte wissen, was passiert war. Also begann Sanna zu erzählen. Davon, wie sie in der Scheune gewesen war, gemeinsam mit Jakob. Wie sie dann in das Zelt vorm Wohnwagen gebracht wurde und was sie dort beobachtet hatte. Die Autos, die Männer, die geplante Sexparty in der Scheune. Den Teil der Geschichte, in dem sie in unmittelbarer Lebensgefahr gewesen war, ließ sie vorerst aus. Renate brauchte heute Nacht nicht unbedingt alles zu erfahren. Auch Jakobs aktive Rolle mit dem rostigen Taschenmesser wollte sie lieber verschweigen. Ihre Tante würde das kaum verstehen. Sie beschränkte sich also darauf, von ihrer gemeinsamen Flucht zu erzählen.
»Jakob und ich sollten in die Scheune gebracht werden«, sagte sie. »Zu diesen Männern. Da haben wir uns überlegt, es wäre besser, abzuhauen.«
Sanna hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie nur die halbe Wahrheit erzählte. Doch wenn ihre Tante alles erfahren würde, dann würde sie ausflippen. Und dafür hatte Sanna keine Kraft mehr.
»Nicht vorzustellen, was sie mit euch angestellt hätten«, sagte Renate. »Diese Bestien! Ich bin so froh, dass du abgehauen bist. Was sind das nur für Menschen!«
Sie nippte an ihrem Weinglas und sah über den Rand hinweg in die Ferne. Schließlich wandte sie sich abrupt zu Sanna und fragte: »Und was war mit Wolfgang Blank?«
»Wolfgang Blank …« Sie spürte einen Druck auf der Brust. »Ich bin so müde, Tante Renate. Können wir morgen darüber sprechen? Ich möchte eigentlich nur noch ins Bett.«
Ihre Tante betrachtete sie nachdenklich. Dann legte sie ihr die Hand aufs Knie und lächelte voller Zuneigung. »Natürlich, mein Engel. Entschuldige bitte. Du musst morgen früh raus, um mit der Polizei zu sprechen. Am besten gehen wir ins Bett.«
»Ja, ich glaube auch.«
Dennoch blieben beide auf der Couch sitzen. Sanna fehlte die Kraft aufzustehen. Draußen prasselte der Regen leise auf das Terrassenvordach.
»Muss mein Vater von der Sache erfahren?«, fragte Sanna.
»Ich fürchte, das lässt sich nicht vermeiden.«
Sie stöhnte. »Er wird alles tun, um mich zurück nach Berlin zu holen. Ihm hat das sowieso nie gefallen, dass ich hier in Marienbüren bin. Jetzt wird er ganz durchdrehen.«
»Du bist erwachsen, Sanna. Du triffst deine eigenen Entscheidungen.«
»Du weißt nicht, wie er sein kann. Außerdem hast du doch selbst gesagt, ich soll die Stelle in Potsdam annehmen.«
»Ach, Sanna. Ich weiß auch nicht, was richtig für dich ist. Das kannst nur
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