Schlangenblut (German Edition)
Fletchers Rücken und unsichtbar für jeden außer Lucy.
»Hundertmal. Mein Vater hat meiner Mutter das Leben gerettet. Sie waren Seelengefährten.«
»Irrtum, Jimmy. Ihr Vater war ein Schwindler, und das Gleiche gilt für Ihre Mutter. Und als Alicia zu alt für ihn wurde, hat er sich andere Frauen genommen – besser gesagt, Mädchen. Dutzende. Hat Ihre Mutter Ihnen je erzählt, wie er gestorben ist?«
»Er ist tot? Sind Sie sicher?« Seine Stimme klang wehmütig wie die eines Jungen, der ein Leben lang nach seinem Vater gesucht hatte, aber leider blieb die Mündung seiner Pistole weiter auf Lucy gerichtet.
»Er starb am selben Tag, an dem Sie geboren wurden. Alicia hat ihn ebenso getötet wie Ihre leibliche Mutter.« Lucy blickte ihm in die Augen, um weiter seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Ich habe die Autopsieberichte gelesen. Alicia hat Ihren Vater getötet, weil er Ihre Mutter – Ihre wirkliche Mutter – verteidigt hat. Und dann hat Alicia Sie aus dem Bauch Ihrer Mutter herausgeschnitten, die junge Frau verbluten lassen und Sie als ihr eigenes Kind ausgegeben. So eine Frau war Alicia, Jimmy.«
Er hatte die Augen weit aufgerissen, ohne dass sie hätte sagen können, ob aus Angst oder Wut oder Verblüffung. Aber er hörte ihr zu und dachte offenbar verzweifelt nach.
Sie streckte ihre freie Hand aus und hielt die mit dem Fernglas weiter seitlich an ihrem Körper, außerhalb seines Blickfelds. »Es ist aus, Jimmy. Geben Sie mir die Pistole.«
Die Bewegungen im Wald hörten auf. Ashley trat einen Schritt vor, eine Schusswaffe in der Hand, und zielte auf Lucy und Fletcher.
»Sie hatten das alles nicht verdient, Jimmy«, fuhr Lucy fort mit ihrem Versuch, ihn aus Alicias Klauen zu reißen. »Geben Sie mir jetzt Ihre Waffe, und ich sage Ihnen, wer Ihre richtige Mutter war. Die Frau, die für Sie ihr Leben geopfert hat.«
Eine vereinzelte Träne drang aus seinem Auge, und Lucy dachte schon, sie hätte ihn. Doch dann begann Ashley zu sprechen.
»Ich hab’s getan. Ich habe getan, was Sie gesagt haben. Wo ist Bobby?«
Fletcher blickte zu Ashley, als Lucy mit ihrem Fernglas ausholte und damit die Hand, in der er die Pistole hielt, gegen die Seite seines Wagens schlug. Seine Glock rutschte über das Dach des Geländefahrzeugs und landete irgendwo in der Dunkelheit dahinter.
Sie holte erneut aus, um seinen Kopf zu treffen. Doch Fletcher blockte den Schlag ab, riss so ruckartig am Riemen des Fernglases, dass er sie aus dem Gleichgewicht brachte, und trat ihr gegen die Beine. Lucy schlug mit der linken Schulter so heftig auf dem Kies auf, dass der Schmerz ihr den Atem raubte.
»Ich wusste doch, dass du es kannst.« Er wandte sich an Ashley. »Du und ich, wir gehören zusammen.«
Als Lucy aufschaute, hob Ashley den Revolver und zielte auf sie. Ashleys Finger bewegte sich am Abzug.
Ein Adrenalinstoß durchfuhr Lucy, ließ keinen Raum für Angst. Sie rollte unter den Geländewagen, um Deckung zu suchen, obwohl ihr klar war, dass sie sich nicht schneller bewegen konnte als eine Kugel.
Aber nichts geschah.
Fletcher lachte. »Ich habe dir nur eine einzige Kugel gegeben. Das war deine Prüfung, und du hast sie bestanden. Das hast du großartig gemacht, Ashley. Und jetzt komm mit.«
Verwirrt blickte Ashley auf die nutzlose Waffe in ihrer Hand. Die Sirene und die Lichter eines Krankenwagens drangen durch die Nacht, und Kies wurde zur Seite geschleudert, während das Fahrzeug auf sie zuschoss. Fletcher riss an Ashleys Arm und versuchte, sie zu sich heranzuziehen. Sie tat einen Schritt in seine Richtung.
»Nein«, rief Lucy, rollte sich unter dem Wagen hervor und stürzte auf Fletcher zu.
Fletcher wirbelte herum und versuchte, ihre Dienstwaffe aus seiner Jackentasche zu ziehen. Lucy wechselte die Richtung, sprang auf Ashley zu und deckte sie mit ihrem Körper.
Der Krankenwagen kam wenige Meter vor ihr kreischend zum Stehen und blendete Lucy mit seinen Scheinwerfern. Als sie sich umsah, war Fletcher verschwunden.
KAPITEL 38
Sonntag, 23.58 Uhr
»Sie haben es tatsächlich geschafft«, sagte Burroughs, als die Sanitäter Lucy zwangen, ihnen Ashley zu überlassen. »Die Chancen waren minimal, aber Sie haben sie gerettet.«
Aber um welchen Preis?, fragte sich Lucy, während ein Sanitäter Ashley eine geradezu bösartig große Nadel in den Arm rammte, um ihr eine Infusion zu legen. Ashley jedoch zuckte nicht mal, sondern starrte nur mit hölzerner Miene ins Nichts.
»Wir haben Fletchers Glock gefunden.
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