Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt
würde es so bald nicht mehr regnen. Der kobaltblaue Himmel machte die Luft eiskalt und trocken, und falls in den nächsten Wochen Wolken aufzogen, würden sie mit Sicherheit Schnee bringen. Ich hoffte nur, dass dies nicht zu früh geschehen würde. Wenn die stählerne Berglandschaft unter einer Schneeschicht verschwand, verlor sie ihren Reiz.
An diesem Tag kam ich spät. Die Sonne berührte den Horizont, und in ein paar Minuten würde die Dämmerung einsetzen. Um diese Zeit war man alleine, keine kleinen Jungs, die Grimassen schneidend an einem vorüberjagten. Auch der Kran war heute nicht zu hören.
Wie immer konnte ich nicht sagen, was ich suchte. Wenn ich mich zwischen den Autowracks hindurchschlich, füllte sich meine Magengegend mit irgendetwas, das nach Abenteuer schmeckte. Mehr war es nicht. Ich erlebte nichts, ich malte mir noch nicht einmal etwas aus. Ich schwelgte einfach nur in dem Gefühl.
Die meisten Autos hatten eine oder mehrere Scheiben verloren, ihnen fehlten Motorhauben oder Kofferraumdeckel. Am merkwürdigsten kam es mir vor, wenn sie keine Reifen mehr hatten. Die leeren Felgen machten sie hilflos, wie Insekten, denen man Flügel und Beine ausgerissen hatte. Man bekam den Eindruck, sie würden liebend gerne von diesem Ort fliehen, aus eigener Kraft, wenn man ihnen nur Reifen aufzog. Das Fahrzeuginnere war in vielen Fällen erstaunlich gut erhalten. Selbst wo die Greifzangen des Krans sich ins Dach gekrallt hatten, die Seitenscheiben weggeplatzt und die Türen eingedrückt waren, hatten die Lenkräder und Armaturen nichts abbekommen. Manche Fahrzeuge hatten noch nicht einmal den Geruch verloren, den neue Autos an sich haben.
Ich passierte zwei Limousinen, die übereinander geschichtet waren, das untere auf dem Dach liegend, so dass es aussah, als pressten sie ihre Bäuche obszön gegeneinander. Der obere Wagen wirkte auf den ersten Blick wie frisch vom Fließband. Lediglich spuckte er dort, wo seine Scheinwerfer sein sollten, bunte Kabel aus. Gleich daneben stand ein Geländewagen von Ford, ein Modell, das ich noch nie „gefahren“ hatte. Die Fahrertür klemmte, doch auf der rechten Seite konnte man zusteigen. Ich kroch auf den Fahrersitz und schloss die Tür hinter mir.
Kleine Kinder stiegen in Spielzeugautos, die für ein paar Groschen zu schaukeln anfingen. Erwachsene steuerten echte Fahrzeuge durch die überfüllten Straßen. Ich kletterte in Schrottautos. Was war ich – Kind oder Erwachsene?
Mit den Händen strich ich über das Lenkrad. Es war hart, kalt und abweisend. Es gelang mir, den Sitz, der ebenfalls hart war, einen Ruck nach vorne zu ziehen, damit meine Füße die Pedale erreichten. Ich drückte die Kupplung, spielte mit der Gangschaltung. Ich konnte jedes Modell haben, das ich wollte. Kleine Einkaufsflitzer, teure Sportwagen und Prunkkarossen, Vans und Cabriolets, Laster und Busse.
Die Handschuhfächer waren selten leer. Meistens fanden sich wertlose Dinge darin – Kämme, faltbare Regenschirme, Musikkassetten, manchmal Notizblätter mit Telefonnummern darauf, Kondome oder altes, graues Toilettenpapier. Einmal hatte ich einen Roman von John Grisham gefunden. Anstatt ihn mit nach Hause zu nehmen, hatte ich ihn Kapitel für Kapitel auf dem Autofriedhof gelesen, im bequemen Fahrersitz eines pechschwarzen Mercedes lümmelnd. Sein spannendes Schlusskapitel wäre mir beinahe zum Verhängnis geworden, denn als ich auf den letzten Seiten angekommen war, wurde ich von dröhnendem Motorenlärm aufgeschreckt und konnte in letzter Sekunde aus dem Wagen fliehen. Aus sicherer Entfernung beobachtete ich, wie die Kralle des Krans sich den Wagen packte, in dem ich eben noch gesessen hatte. Sie hob ihn fünf Meter in die Luft und lud ihn auf einem der benachbarten Schrotthügel ab. Doch dort blieb er nicht. Er rutschte herab und überschlug sich, als er mit dem Kofferraum gegen die Erde stieß. Ich hörte den Kranführer zuerst fluchen und dann lachen. Er schnappte sich den Wagen ein weiteres Mal, und als er ihn nach mehreren Versuchen umgedreht hatte, war der eben noch gut erhaltene Mercedes nicht mehr wiederzuerkennen. Bis heute habe ich die letzten Seiten von „Die Firma“ nicht gelesen. Es steckt ein wenig Aberglaube dahinter. Wenn ich den Roman damals zu Ende gelesen hätte, wäre ich vielleicht in dem Auto umgekommen.
Auch heute kramte ich mich durch das Handschuhfach. Es enthielt eine Menge leerer Bonbon-Dosen, alles englische saure Drops, und ganz hinten gab es einen Stapel
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