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Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt

Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt

Titel: Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Briefe, die einen privaten Eindruck machten. Ich gestehe, ich begann zu lesen. Es waren Liebesbriefe, und ich las mich schlimmer daran fest, als ich es bei Grishams Schmöker getan hatte. Es wurde allmählich dunkler, und ich kramte die kleine stiftförmige Taschenlampe hervor, deren Birne so schwach war, dass sie keine Aufmerksamkeit erregen würde. Zumindest nicht, solange es nicht dunkler wurde.
    Ein Knall ließ mich zusammenfahren.
    Im ersten Moment war mir nicht klar, dass es sich um einen Schuss gehandelt hatte. Vielmehr dachte ich voller Schrecken, in den Schrottstapel, der gleich neben mir in die Höhe wuchs, wäre Bewegung gekommen. Manchmal brach ein Karosserieteil unter der Belastung zusammen.
    Die kleine Lampe war mir aus der Hand gefallen, die Briefe ebenfalls. Das Seitenfenster auf meiner Seite war heruntergekurbelt oder fehlte ganz, und ich spähte nach draußen. Als ich nichts erkennen konnte, sah ich in die andere Richtung. Dort gab es ein geschlossenes, leicht verschmiertes Fenster.
    Ein Blick durch dieses Fenster rettete mir das Leben.
    Wäre ich über den Beifahrersitz gekrochen, hätte die Tür aufgestoßen und blindlings die Flucht ergriffen, wäre ich heute tot.
    Ich sah einen Mann rennen.
    Zuerst lief er auf mich zu, dann beschrieb er einen Bogen. Er hatte weiße Haare, und er hinkte. Es ist nicht schlimm, einen Hinkenden gehen zu sehen – wenn er dagegen rennt , so schnell er kann, sieht es entsetzlich aus. Immer wieder griff er nach seinem rechten Schenkel, als hätte er dort eine Verletzung. Ich glaubte Blut über seine Hose rinnen zu sehen. Plötzlich schien sein Bein ihn nicht mehr halten zu können, und er ging zu Boden. Was mich erschreckte, war, dass es ganz und gar nicht wie in den Filmen aussah, wo die Leute sich abrollen oder selbst dann noch weich fallen, wenn die Handlung von ihnen verlangt, wie tot niederzubrechen. Actionfilme gaukeln einem vor, man hätte schon so manches gesehen, doch auf die Wirklichkeit bereiten sie einen nicht vor. Als der Mann zusammensackte, hatte er selbst nicht damit gerechnet. Seine Hand kam zu spät nach oben, um sich abzufangen, und er schlug mit dem Kopf gegen den Boden. Ich konnte sein schmerzvolles Stöhnen hören. Es war wie eine Anklage an die Welt. Er war von seinen eigenen Muskeln verraten worden.
    In diesem Moment ging ich in Deckung, indem ich mich flach auf die Sitze warf. Doch wenige Sekunden später hatte ich das Gefühl, dass diese Deckung nicht ausreichen würde. Ich rutschte langsam nach links und ließ mich ans Fußende des Wagens hinabfallen.
    In einer absolut unbeschreiblichen Stellung blieb ich dort liegen, mein Körper verkrampft und zitternd. Der Schaltknüppel drückte mir in die Seite, und mein nach Luft schnappender Mund sog den Staub ein, der sich auf der Fußmatte des Beifahrers angesammelt hatte. Erst jetzt begriff ich, dass der Weißhaarige der Besitzer des Schrottplatzes gewesen war. Sein Gesicht war verzerrt gewesen, seine Bewegungen so anders als die des gemächlichen, beinahe lethargischen Mannes, den ich kannte.
    Ich hörte auch seine Stimme. Ein Winseln, ein panisches Schreien, viel mehr war es nicht. Andere Stimmen brüllten etwas in einer fremden Sprache. Es klang hart, wie ein Todesurteil. Zwei Leute waren es, die ihn anschrien.
    Dann fiel der nächste Schuss.
    Ich drückte das Gesicht auf die Fußmatte und betete. Presste die Hände über dem Kopf gegeneinander, faltete sie und wisperte ein Gebet.
    Das war nichts Ungewöhnliches. Viele Menschen hätten in meiner Situation ein Gebet gesprochen, die meisten vermutlich, auch jene, die sonst über Gott und den Glauben zu spotten pflegten.
    Erst nach einiger Zeit begriff ich, was ich da betete.
    Ich betete zu Gott, er möge dafür sorgen, dass der Mann erschossen wurde. Ja, genau das flüsterte ich in den Staub der Matte. Ich wollte, dass er schnell starb und seine Mörder sich verzogen. Was ich nicht wollte, war ein langer Kampf, eine umständliche Flucht, eine Gegenwehr. Ich wollte nicht, dass er durch einen dummen Zufall in dem Geländewagen Zuflucht suchte, in dem ich mich verbarg. Und ich wollte nicht, dass die Kerle weitere Schüsse in die Gegend abgeben mussten. Irgendeiner davon würde mich treffen.
    Es war grauenhaft, dort zu liegen und in den Momenten der Todesangst einen schrecklichen Ekel vor sich selbst empfinden zu müssen. Ich hatte nichts gegen den Mann. Ich mochte, wie er fluchen und lachen in einem konnte, wie er die Zigaretten bis zum Filter

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